Wenn es bei der Figurenentwicklung ans Eingemachte geht, fällt La Fura dels Baus allerdings wenig ein. Da wirkt die schöne Agathe (Jeanine De Bique mit füllig zaubervollen Tönen und Dialogschwächen) larmoyant. Anna Prohaska als tänzelndes Ännchen liefert unsoubrettige vokale Edelkonkurrenz. Vor allem die Frauen sind bei La Fura dels Baus wie Figuren in den Schaukästen eines Märchenwalds. Christof Fischesser als Kaspar spricht den Kugelsegen mit profunder Nachtschwärze und ebensolchen Textilien. Der Urahn auf dem herabfallenden Bild ähnelt dem Erbförster Kuno (Franz Hawlata), dessen Erzählung wird wie alle anderen Dialoge mit Warnfunktionen zu Klimawandel, Natursterben und Sturmkatastrophen sanft erhitzt wurde. Klar: Man wollte die breiten Erwartungserhaltungen des Publikums an das Stück nicht enttäuschen. Dabei übersah man die Feinheiten, wie sie Friedrich Kind auf Geheiß Webers in das Textbuch eingefügt hatte. Obwohl Benjamin Bruns die beiden großen Terzette und die böse tief notierten Passagen der Wolfsschlucht exemplarisch meistert, rutscht die Titelfigur Max mit ihrer zögerlichen Unentschlossenheit weg. Ein Bilderbuch-Schütz am Schnittpunkt zwischen Prinz und Wilderer ist Viktor Rud als zum Freund Ännchens aufgewerteter Kilian. Mikhail Timoshenko gibt den Fürst Ottokar wie einen ins Post-Apokalyptikum versetzten Freimaurer. Instrumentalsolist*innen treten bei ihren großen Stellen zu den Sängern. Die böse Gewalt Samiel (Wolfgang Häntsch) ist auf Heimaturlaub vom Krieg der Sterne.
Christoph Eschenbach macht auf dem Dirigentenpult an der linken Rampe des Podiums mit dem Konzerthausorchester Berlin gute Miene zum entfesselten Spektakel. Man hört wenig davon, dass „Der Freischütz“ als vergrübeltes Kollektivseelendrama einer Nation vergöttert wurde, dafür aber die satte bis laute Effektsicherheit in Webers Partitur. Geknausert wurde an milden Gewürzen, die man früher mit Etiketten wie „Gemüthaftigkeit“ und „Innerlichkeit“ in den „Freischütz“ projiziert hatte und welche inzwischen als äußerst fragwürdige Zuschreibungen gelten. Immerhin hatte La Fura dels Baus alles vermieden, was 1821 nach Webers Meinung im Königlichen Schauspielhaus nicht so gut gelaufen war: die klassizistische Komfortzone des Jagdschlösschens als Ambiente für Agathes Klagen und jene eleganten Trikothosen und Tanzschuhe, mit denen die Jägerburschen Max und Kaspar bei rauer Witterung zum Kugelgießen eilen. Sichtbar solidarische und großzügige Unterstützung erhielt Hwan Kim von den drei Berliner Opernhäusern für die Kostüme.
Als sich alle Mitwirkende und das etwa 20-köpfige Team von La Fura dels Baus auf den Stufen des Konzerthauses vor der schwarzweißen Fassaden-Installation „Amplifier“ von Bettina Pousttchi verbeugten, war der Jubel der 500 zugelassenen Zuschauer groß. Äußerst beachtlich wurde gesungen, dazu unterhaltsam und etwas flach gespielt. Die Klimawandel-Konzeptebene erwies sich als geschickte Finte, um den echten Herausforderungen des übersinnlich aufgemauschelten Problemstücks mit bewährten szenischen Lösungen abzuhelfen. Industrie- und Laserzauber verwendete La Fura dels Baus für die „Freischütz“-Fallstricke als Arztbesteck und Therapierezept ohne den dafür unerlässlichen Bodycheck am Patienten. Solche passgenauen Produktangebote dürften allerdings nicht einmal zum für Nicht-Kenner aufgestellten Jubiläum als ideale Lösung gelten.
Der Livestream am 18. Juni 2021 um 19.00 Uhr auf ARTE Concert und konzerthaus.de wird zu einem späteren, noch unbekannten Termin bei ARTE ausgestrahlt werden.