Foto: Das Ensemble tanzt zu Pina Bauschs Frühlingsopfer. © Serghei Gherciu
Text:Vesna Mlakar, am 11. April 2025
In der Ballettfestwoche der Bayerischen Staatsoper vereint das Ensemble Choreografien von Sidi Larbi Cherkaoui, Jiří Kylián und Pina Bausch zum beeindruckenden Dreiteiler „Wings of Memory“.
Dass ein Triple Bill die Münchner Ballettfestwoche eröffnet, ist keine Regel. Seit einigen Jahren kann man darin aber schon fast so etwas wie eine Tradition sehen. Der aktuelle Abend wird mit einer brillanten Wiederaufnahme von Jiří Kyliáns „Bella Figura“ zu Musik vor allem aus der Barockzeit und zu Giovanni Battista Pergolesis „Stabat Mater“ eröffnet. Mit dem Thrill famoser, niemals inhaltsleerer oder bloß Perfektion ausstellender Balletttechnik werden darin Sinnlichkeit, Körperverliebtheit und Beziehungen ebenso verhandelt wie die Gleichstellung von Mann und Frau – was ein Wechsel der Kostüme von zeitgenössischen Trikots zu barock-ausladend roten Röcken ohne Oberteile für alle noch unterstreicht.
Bei offenem Vorhang stimmen sich die neun Tänzerinnen und Tänzer mit ihren Körpern auf die Vorstellung ein, noch bevor die Zuschauer Platz genommen haben. Was die Akteure dann erzählen, bleibt streckenweise jedoch surrealistisch verrätselt. Mobile Hänger treiben ihr eigenes Spiel mit dem Raum. Am Ende vernimmt man bloß noch das leise Lodern in den zwei seitlich aufgestellten Feuerschalen – platt und überwältigt von einer Manifestation exorbitanten Könnens. Mehr „Bella figura“ – also guten Eindruck hinterlassen – kann ein Ensemble nicht.
Urtümliche Zweisamkeit
Eine auflockernde Scharnierfunktion hat im Anschluss Sidi Larbi Cherkaouis „Faun“. Impressionistisch ist die von Debussy zugrunde gelegte, gleichnamige Komposition. Doch Margarita Fernandes und António Casalinho verweigern sich in ihrer fabelhaft kreatürlich-erdverbundenen Interpretation der zu erwartenden unschuldig-verspielten Leichtigkeit. Beide haben als junges Paar im Privatleben gewiss ihre eigene starke Geschichte. Auf der Bühne stellen sie nun eine völlig andere, weniger kopfgesteuerte Beziehungsbeschaffenheit aus, die mehr die Qualität von Verbundenheit und die körperliche Erkundung einer engen, temporären, ja urtümlichen Zweisamkeit betont. Darin schwingt archaisches Pathos und auch Schwere mit.
Sanftheit, Übermut und wunderbare Unisono-Passagen verleihen dem stilistisch ungewöhnlichen, sehr dynamischen und bisweilen fast athletischen Duo weitere markante Akzente. In das letzte Sich–Übereinander-Zusammenfalten packen Fernandes und Casalinho ein Versprechen. Er erhebt sich und geht ihr den Rücken zugewendet auf Abstand. Sie behält Bodenhaftung und streicht sich übers Haar. Den Kontakt suchen bloß noch beider Hände. Das hat eine geradezu magische Kraft.
Tänzerische Wucht
Wer eine Aufführung von Pina Bauschs „Das Frühlingsopfer“ miterlebt, kann sich dessen dynamischem Flow aus tänzerischer Urgewalt und menschlicher Energie kaum entziehen. Bauschs Umsetzung von Strawinskys „Sacre“ aus dem Jahr 1975 gilt längst als ikonisches Werk. Brachial und schonungslos fordert es den beteiligten 32 Tänzerinnen und Tänzern alles ab. Aus dem Verbund vor maskuliner Energie schier berstender Männer löst sich früh Soren Sakadales, der durch abruptes Zupacken den Tod einer Frau, des Opfers, bestimmt. Das Auswahlverfahren vollzieht sich in gewaltigen emotionalen Schüben, was bisweilen heftig anzusehen ist. Tänzer gehen zu Boden und richten sich verdreckt wieder auf. Kurz setzt das Orchester aus. Es wird laut geschnauft und um Luft gerungen.
Tänzerisch ist das eine Wucht. Erschreckend aktuell erscheint die thematisierte Suche nach einem möglichen Opfer und wie erbarmungslos dabei vorgegangen wird. Die „Auserwählte“ am Premierenabend ist Laurretta Summerscales. Wie diese Primaballerina am Ende Weltschmerz, Todesfurcht, plötzliches Ausgestoßen-Sein und Anflüge von Irrsinn durch ihren Körper pulsieren lässt, ist nicht nur herzzerreißend, sondern Tanztheater pur. Fürs Publikum sehenswert ist davor schon das „Vorspiel“, wenn ein beachtlicher Stab von Bühnenarbeitern während der gesamten zweiten Pause sechs Container voller Torf auf ein zuvor angenageltes Tuch kippt und dann mit Schaufeln und Rechen gleichmäßig auf dem Podium verteilt.