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Jenseits von Afrika

Carl Maria von Weber: Der Freischütz

Theater:Theater Bremen, Premiere:23.03.2013Regie:Sebastian BaumgartenMusikalische Leitung:Markus Poschner

Gibt es so etwas wie eine werkgerechte Dekonstruktion? Kann man mit dem Werk gegen das Werk inszenieren? Das war so in etwa die Frage, die mich auf der Heimfahrt von Sebastian Baumgartens „Freischütz“-Inszenierung am Theater Bremen beschäftigt hat. Denn Baumgarten, das sieht schon bei der Ouvertüre nun wirklich jeder, Baumgarten setzt Carl Maria von Webers musikalischer Wald- und Schauerromantik eine ganz eigene Bild- und Szenenwelt entgegen. Was da beispielsweise im Video von Philip Bußmann gen Himmel ragt, das sind keineswegs die hohen Stämme des deutschen Waldes, sondern die langen Hälse von Giraffen in der afrikanischen Steppe. Und die Landleute, die da feiern, vor einer ziemlich wehrhaften, mehrstöckigen Holzbarrikade, die die Bühnenbildnerin Natascha von Steiger aufgebaut hat – sie sehen in den grünen Dreiviertelhosen der Kostümbildnerin Marysol del Castillo, mit ihren glatthaarigen Bubikopf-Perücken und rot geschminkten Wangen aus wie rechte Dorfdeppen aus einem alten Bilderbuch.

Mit anderen Worten: Baumgarten setzt auf von Webers „Freischütz“ eine gezielt holzschnittartige Struwwelpeter-Ästhetik mit einigen ziemlich exterritorialen Assoziationen drauf. Aber diese Ästhetik antwortet doch sehr genau auf das ja nun auch nicht unbedingt wählerische Kolportage-Prinzip, dem gemäß der Librettist Johann Friedrich Kind zusammenmontiert hat, was das Gefühls- und Gruselkabinett des 19. Jahrhundert so zu bieten hatte (per Video wird sogar die bei der Komposition gestrichene Eingangsszene mit Agathe und dem Eremiten mitgeliefert). Der Keyboarder Stefan Kozinsky funktioniert die von schrägen Sampler-Klängen untermalten Dialogszenen zu kleinen Melodramen um. Und deren neue Texte von Baumgarten und dem Bremer Dramaturgen Ingo Gerlach machen aus Kinds Jägersleuten eine Soldatenmeute, die offenbar ihr blutiges Handwerk in früherer Zeit tatsächlich in Afrika ausgeübt hat. Oder auch jetzt noch? Ganz klar wird das nicht, denn die Vergangenheit wirkt fort in der Bühnengegenwart jenseits von Afrika, weil die Protagonisten böse Erinnerungen im Gepäck und Leichen im Keller haben. Der schwarze Jäger beispielsweise wird hier tatsächlich zu einem Farbigen, verkörpert durch eine Handpuppe, die Max im Rucksack mit sich führt. Die Wolfsschlucht ist eine Art finsterer Voodoo-Tempel in den Katakomben unter der Holzbarrikade; die Gestalten des „Wilden Heeres“ erinnern in ihren Umhängen an entsprechende Priester, die Freikugeln werden aus den Leibern der Schwarzen geschnitten, die von den weißen Soldaten erschossen wurden.

Ja: ziemlich wild das! Und doch nahe genug am Werk, dass diese Inszenierung spürbar dessen dramatische Bögen nachbildet, nur eben anders als üblicherweise. Man erlebte in Bremen einen zwar irritierenden, aber spannenden Opernabend. Am irritierendsten sind zweifellos die per Video und Zwischentext installierten Anspielungen auf den Kolonialkrieg zwischen den deutschen Truppen und den Völkern der Herero und Nama in (damals) Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) zwischen 1904 und 1908. Diese Assoziation ist schon sehr spekulativ und damit auch riskant, weil man sie bei oberflächlichem Zuschauen als Denunziation der afrikanischen Kultur als „das Böse“ missverstehen kann. Während Baumgarten natürlich auf eine noch immer virulente Spielart deutscher Perspektive auf Afrika zielt. Der so ruhm- wie ruchlose Völkermord der Deutschen an Afrikanern ist längst nicht so intensiv im kollektiven Gedächtnis aufgearbeitet wie die Nazi-Verbrechen. Er gehört zur verdrängten deutschen Kolonialgeschichte und bildet so einen heimlichen Humus für die in bestimmten Kreisen bis heute wirksame Xenophobie gegenüber Schwarzafrikanern: Die Opfer von einst werden als finstere Macht dämonisiert –  als solche Dämonen erscheinen sie in Baumgartens Inszenierung.

Mit solchen Anspielungen macht es Baumgarten den Zuschauern nicht immer leicht – manchmal wünschte man sich eine stringentere Beglaubigung. Und doch hat seine Inszenierung viel von dem, was man in seinen Arbeiten früher bisweilen vermisste: eine starke Personenführung, einen ziemlich frechen Humor beispielsweise. Kein Wunder, dass die Zuschauer beim Schlussapplaus in Buh- und Bravo-Rufer gespalten waren. Dass das Musiktheater-Gesamtereignis hier erstaunlich gut trägt, ist aber auch dem Dirigenten (und Bremer GMD) Markus Poschner zu verdanken, der den Weg der Dekonstruktion musikalisch mitgeht: In fast sachlich schlankem, hochdifferenziertem Klangbild, mit Zäsuren und Generalpausen, die die Musik nicht nur gliedern, sondern fast zergliedern, macht Poschner hörbar, wie viel Zerrissenheit von Weber seiner genialen Musik eingeschrieben hat. Poschners Interpretation ist fesselnd – nicht etwa obwohl, sondern weil sie jede vordergründig romantische Stimmung und allen Halali- Schmackes verweigert.

Das Ensemble ist darstellerisch sehr motiviert, auch wenn die Stimmen eher durchschnittlich sind. Aufhorchen lässt Christoph Heinrich als Eremit von ebenso sonorer wie linienklarer Bass-Seriosität. Und ein Bühnenereignis von eigenem Rang ist der wuchtig-finstere Kaspar, den Loren Lang darstellerisch fast in die Nähe von Heath Ledgers „Joker“ rückt – nur dass die sprachliche Artikulation bei ihm eine wirkliches Manko ist. Patricia Andress als Agathe singt zwar alles richtig, aber ihrer eigentlich schön timbrierten Bronzestimme fehlt die lyrische Linie, im Zittervibrato verschwimmt der Fokus. Auch Heiko Börner als Max ist tadellos präsent, klingt aber im Forte blechern. Und Steffi Lehmann bezaubert die Zuschauer mit rampenwirksamem Soubrettencharme. Eindrucksvoll im subtilen, prägnant artikuliertem Klangbild und im szenischen Agieren: der von Daniel Mayr einstudierte Chor.