Foto: Mit der Gabe der Voraussage geschlagen: Catherin Naglestad als Cassandre. © Hans Jörg Michel
Text:Detlef Brandenburg, am 20. September 2015
Eigentlich braucht man, um Hector Berlioz’ Staatsgründungs-Musikepos „Les Troyens“ auf die Bühne zu bringen, gleich mehrere gute Gründe. Erstens: Man braucht einen Dirigenten, der sich auf Berlioz’ extreme Kontrastdramaturgie einlässt, ohne das Werk im breitgepinselten Pathos zu ersäufen. Dieser Grund war an der Hamburgischen Staatsoper einwandfrei gegeben, er heißt Kent Nagano und ist der neue Generalmusikdirektor des Hauses. Man braucht zweitens ein Ensemble mit mindestens einem Dutzend speziell begabter Sänger, die mit den heiklen vokalen und stilistischen Anforderungen der Partien klarkommen. Dieser Grund war in Hamburg zumindest zu einem hohen Prozentsatz gegeben. Und man braucht drittens einen Regisseur, der in der Lage ist, sowohl mit Berlioz’ eigenwilliger Interpretation des Modells Grande opéra wie auch mit seinem bekennerhaften Nationalismus im Libretto umzugehen. Dieser Grund war allenfalls ansatzweise zu erkennen. Insofern war diese vom Publikum heftig umjubelte Eröffnungspremiere von Georges Delnons Intendanz an dem traditionsreichen Hause zwar ein Erfolg, aber keineswegs in allen Belangen ein überzeugender Erfolg.
Fragen warf bereits die von Pascal Dusapin hergestellte Strichfassung auf. Dusapin ist ja ein musikhistorisch wacher Komponist, seine Fassung folgt einer klar erkennbaren Strategie: Er streicht vor allem bei den Haupt- und Staatsaktionen und spart dem Haus damit eine Menge Aufführungsaufwand. Aus der Grande opéra wird quasi eine große Kammeroper, die sich auf die Selbstentäußerungen und Konfrontationen der Hauptfiguren konzentriert. Das ist inhaltlich nachvollziehbar. Dramaturgisch aber entfremdet er das Werk damit seiner eigenen Gattung. Außerdem fehlen mit den gestrichenen Passagen auch die dort eingebauten dramaturgischen Scharniere. Man erlebt ein Stationendrama mit teils unmotivierten Stimmungs- und Szenenwechseln – und ertappt sich bei dem Gedanken, ob es nicht konsequenter gewesen wäre, wenn Dusapin für einige Bruchstellen eigene Zwischenspiele geschrieben hätte. Das hätte das Gebrochene der Form zweifelsfrei zum künstlerischen Prinzip erhoben, während sich jetzt der Verdacht der Verlegenheitslösung nicht ganz von der Hand weisen ließ.
Das wäre aber nicht allzu schlimm, wenn der Regisseur Michael Thalheimer mit diesen Problemen szenisch umgehen würde. Man hat aber das Gefühl, dass ihm entweder nicht bewusst oder aber egal ist, was fehlt. Dem, was übrig ist, stülpt er eine große Behauptung über – die allerdings ist inhaltlich interessant. Berlioz, der einmal bekannte, „durch und durch Imperialist“ zu sein, münzt ja Vergils Gründungsmythos des römischen Reiches um in eine große Akklamation des französischen Nationalismus seiner Zeit. Lässt man aber, so wie in Hamburg, den affirmativen Pomp weitgehend weg, dann verlieren die Handlungszwänge der Figuren ihre objektive Motivation. Sie erscheinen vielmehr als individuelle Obsession. Dadurch lässt sich eine Ideologie, die Berlioz als objektiv richtig verherrlichte, als subjektive Haltung kritisieren: Aeneas muss Dido nicht verlassen, er glaubt nur, es zu müssen. Auch Cassandre und die trojanischen Frauen müssen sich nicht umbringen, um der Unterjochung durch die Griechen zu entgehen (was man übrigens sogar werkintern erkennt, nämlich an der offenbar keineswegs unglücklichen Ehe der Andromaque mit dem Sohn von Hectors Mörder). Und selbst Didons feierliche Selbsttötung auf dem Scheiterhaufen ist die Folge einer selbstzerstörerischen Zwangsvorstellung, die hier als Tat einer gekünstelten Selbstdarstellerin erscheint. Insoweit hätte Thalheimers typische minimalistische Personenregie durchaus interpretatorischen Gehalt. Sogar die Geister der Toten, die mit ihren „Italie“-Rufen die Einlösung der nationalen Sendung einfordern, erscheinen hier als gebrochene, blutige Gruselgestalten, vor denen man eher weglaufen als ihnen folgen möchte. Auch sie könnten Projektionen aus dem kranken Inneren der Lebenden sein. Nicht ein Gott, jeder selbst ist hier seines Unglückes Schmied. Das zu erkennen wäre eine Forderung moderner Verantwortungsethik.
Das Problem ist aber, dass sich Thalheimer nicht einmal ansatzweise auf die Dramaturgie der Oper einlässt – weder auf die der Grande opéra noch auf die der Großen Kammeroper, die Dusapin daraus gemacht hat. Thalheimers minimalistische Markenzeichen-Regie führt dazu, dass jede Figur mit dem ersten Auftritt bereits enträtselt ist. Lässt man den oben vorgeschlagenen interpretatorischen Überbau einfach mal weg, dann sieht man über weite Strecken nüchternes Steh- und Rampentheater von Figuren, die mit blutigen Händen bedeutungsvoll gestikulieren, und eine nicht nur minimalistische, sondern enervierend minimale Chorführung. Da hilft auch Olaf Altmanns zunächst durchaus effektvoller Bühnenkasten nicht mehr: ein hölzerner Bunker mit einem gewaltigen schwenkbaren Tor rückwärtig, auf das gern mal Blut herunterprasselt oder bei der Chasse royale auch eine Menge Wasser. Das sind schöne Bilder von archaischer Wucht. Aber sie wiederholen sich und nutzen sich dadurch genau so ab wie Thalheimers Posen. Und auch Michaela Barths Military Look (Trojaner) und Casual Wear (Karthago) zielt eher auf das Typisierende als auf das Individuelle.
Man hat folglich jede Menge Zeit, sich auf die Musik zu konzentrieren. Und das ist überaus lohnend. Kent Nagano gelingt eine Interpretation, die das Werk mit den Mitteln einer hellwachen interpretatorischen Intelligenz bis in seine Tiefe auslotet. Das wichtigste Mittel dazu sind kristallklare Klangbilder, deren Linien in nahezu jeder Lautstärke präzise gezogen und attraktiv koloriert werden. Das leuchtet und changiert, wird aber nie sämig oder verschwommen. Nur einige schon vom Instrumentierungskünstler Berlioz sozusagen aquarellistisch angelegte Passagen, etwa die Morgenstimmung im afrikanischen Wald zu Beginn der Chasse royale oder die Nacht am Strand bei Hylas‘ Lied, kommen recht nüchtern. Sonst aber wirkt Naganos Ansatz bei aller Klarheit keineswegs nur „analytisch“, weil er in organisch atmenden und sehr differenzierten Tempi jederzeit den emotionalen Pulsschlag dieser Musik spürbar macht. Insoweit ist sein Debüt ist ein großes Versprechen. Um es einzulösen, ist allerdings noch Arbeit nötig. Das Orchester mischte einige trübe Farben ins transparente Klangbild. Und an der rhythmischen Verständigung mit dem von Eberhard Friedrich wieder einmal hervorragend präparierten Chor wäre ebenfalls noch zu arbeiten. Dessen Präsenz und markanter Klang in allen Stimmen allerdings war grandios.
Und das Gesamtniveau des Hamburger Sängerensembles war erstklassig, die Besetzung beispielsweise des Hylas mit Julian Prégardian war sogar Luxusklasse: Das „Vallon sonore“ wurde zum Gipfel reinsten lyrischen Wohlklangs. Auch sonst waren kleine Partien groß besetzt, selbst die der Andromaque, die nichts zu singen hat, hier aber in einen erschütternden Schmerzensschrei ausbricht und von Catrin Striebeck als „Schwarze Witwe“ grandios auf die Bretter gelegt wird. Oder der sowohl stimmlich wie darstellerisch absolut präsente Ascagne von Christina Gansch aus dem internationalen Opernstudio.
Die Titelpartie ist nahezu unsingbar für heutige Tenöre, da muss sich jeder seinen eigenen Weg suchen. Das tat auch Torsten Kerl, und es führte zu einigen Abstrichen in der Höhe. Trotzdem muss man sagen, dass er einen heldischen, empathischen und in Phrasierung und dynamischer Gestaltung auch sehr idiomatischen Enée auf die Bühne bringt – dem dort freilich eines in empfindlichem Maße abgeht: darstellerisches Charisma. Man hat allerdings den Eindruck, dass sich Thalheimer sowieso mehr für die Frauen interessiert. Und Elena Zhidkovas Didon wird man sicher so bald nicht vergessen: eine selbstverliebte Tragödin, die nicht mehr aus ihren eigenen Posen herausfindet, neurotisch bis in die hochexpressive vokale Gestaltung hinein, von hysterisch flammender Leidenschaft, dabei hochprofiliert in der dramatischen Diktion. Ob sie oder die Cassandre von Catherine Naglestad die Heroine des Abends war, das war anschließend unter den Vokalconnaisseurs umstritten (und angesichts des Niveaus beider Sängerinnen ein weiteres Luxusproblem). Vokal fand ich die sehr empfindsam angelegte Seherin der Naglestad überzeugender, weil sie im Lyrischen mehr Seele hatte und in der weicheren Phrasierung idiomatischer war als Elena Zhidkova, deren Piano etwas spröde ansprach, und deren Phrasierungsbögen starrer wirkten. Naglestads Cassandre war nicht die große Unheilsfurie, sondern eine Gezeichnete, die unter der Gabe, mit der sie von dem von ihr verschmähten Apollon gezeichnet wurde, leidet; und eine innig Liebende, die das gemeinsame Ende mit ihrem Chorèbe (dunkel und mit schön phrasiertem Legato: Kartal Karagedic) bewegt annimmt.
So viel über diese Hamburger Eröffnung, obwohl weit mehr Sänger eine Würdigung verdient hätten. Aber da Delnon und Nagano auf das Ensembleprinzip setzen, werden wir vermutlich vielen von ihnen widerbegegnen. Diese Premiere nährt die Hoffnung, dass wir Grund zur Vorfreude darauf haben.