Der Schachzug, die 16-jährige Erfolgsgeschichte ihrer mit dieser Spielzeit ausklingenden Ära an der Spitze des Badischen Staatsballetts Karlsruhe durch einen zukunftsweisenden Rückblick zu beenden, ist Kammertänzerin Birgit Keil gleich mehrfach gelungen. Denn was sich hinter dem eher unpoetisch-sperrigen Titel „Zukunft braucht Herkunft #soooeintheater“ – ein Doppelkonstrukt inhaltlicher Basisideen von Choreograf und Initiatorin – verbirgt, verlinkt Marksteine der Kultur- und insbesondere Tanzgeschichte mit einschneidenden historischen Ereignissen in Karlsruhe. Und das ironisch reflektiert und ohne Scheu vor Zitaten oder Verfremdungseinfällen. Den Witz, die lässige Leichtigkeit und freche Science-Fiction-Note, mit der Bordin und sein Team sich der komplexen Aufgabe angenommen haben, wird ihnen so schnell niemand nachmachen.
Bordins Abenteuer „Zeitreise“ beginnt mit dem Blick auf einen Zeitstrahl, dem Sog weißer, auf ein Zentrum zulaufender Linien mittenhinein in die Schwärze eines (Bühnen-)Universums. Von dort platzen zwei Bodyguards „Marke Blues Brothers“ wie aus dem Film „Matrix“ entsprungen in einen Prolog hinein, der sich – ganz in der Art von Flugbegleitern – informativ-streng und direkt ans Publikum richtet. Eine Lady, die im Spotlicht weiter auf ihrem Smartphone herumdaddelt, statt sich dem Geschehen auf der Bühne zuzuwenden, wird sodann aus dem Saal eskortiert.
Augenblicke später findet sich der Zuschauer am barocken Hof des Stadtgründers und Namensgebers von Karlsruhe wieder. In Perücke und Schnallenschuhen tanzt Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durach (Joâo Miranda) zwischen den aufgespannten Schnüren die fächerförmig angeordneten Straßenzüge entlang. Ein frohgemuter Visionär, den bald auch die Gründung eines Theaterbaus umtreibt. Seine Gemahlin (Sabrina Velloso), die öfter mal vorbeischaut, schlürft dagegen lieber Köstliches aus ihrer übergroßen Tasse. Weder Partystimmung anno dazumal noch die sechs jauchzend ihren Mann umschwärmenden Hofdamen halten sie länger im neuen Zentrum der Macht.
Frivole Paarspiele mit Äpfeln bereichern das kollektive Amüsement der feinen Gesellschaft – darunter zunehmend Irrläufer aus der Zukunft. Gut erkennbar an modischen Turnschuhen, einem hippen Kopfhörer bzw. stilistischen Bewegungsausrastern, die Querverweise auf das heutzutage gängige „Aus-der-Achse-Kippen“ bis hin zu Breakdance-Vokabular vorwegnehmen. So momenthaft unterhaltsam und griffig dieses Durchschießen der Zeitstränge den 30-minütigen ersten Teil auflockert, lässt es dem Choreografen jedoch wenig Möglichkeiten zur Entfaltung einer eigenen Handschrift.
Erst nach der Pause gewinnen einzelne tänzerische Passagen, Pas de deux-Einschübe und die für Moderne und Zukunft stehenden Ensembleszenen an Dauer und Präsens. Den Kompromiss, leicht identifizierbare Qualitätsmerkmale berühmter Kollegen wie George Balanchine oder Partien wichtiger Künstlerpersönlichkeiten in den Fokus zu rücken, ist Bordin in seiner humorvoll aufbereiteten Jubiläums-Ballettshow offenbar bewusst eingegangen. Und schlüssig hat er dabei die Kurve gekriegt, bei seiner Musikauswahl stets rein assoziativ vorzugehen.
Die pfiffigen Kostüme mit unterschiedlichem Anmutungsflair stammen von der langjährigen niederländischen NDT-Tänzerin Bregje van Balen. Bis zum Schluss spielt Bordin sehr bewusst mit dem jeweiligen Schuhwerk der Tänzerinnen und Tänzer als Ausdrucksmittel für Zeit und Stil. Kurz tanzt der Erste Solist Pablo Octávio – einer von fünf Tänzern, die im Stück-Abschnitt „Reminiszenz an die Ballets Russes“ an Vaslav Nijinsky und dessen berühmteste Rollen erinnern – sogar in Spitzenschuhen. Anna Pawlowa (Rafaelle Queiroz im Schwanenmodus) und die Ausdruckstänzerin Isadora Duncan (Carolina Martins im lose-wallenden Brahms-Walzer-Kleid) mischen sich stellvertretend für die Frauen, die dem Tanz richtungsweisende Impulse gaben, unter eine Gruppe sprunglustiger Fallschirmjäger.
Den architektonischen Visionen des theateraffinen Markgrafen hat das kroatisch-österreichische Designkollektiv Numen & Ivana Jonke einfallsreich Gestalt verliehen. Statt Fotos zu projizieren oder alte Grafiken zu bemühen, operieren sie mit durchsichtigen Folien, Luft und Nässe. Der Panzer im Hintergrund ist daher federleicht. Ein ballonartiger Kubus wird zum Theater. Weil durchsichtig, sieht man sogar die Auftritte der Tänzer darin, während außen der Lauf der Jahrzehnte weitere Kreise zieht.
Nach dem Bombardement im ausgefinkelten Lichtdesign von Stefan Woinke kann die nutzlos gewordene Hülle schnell mit Hilfe einiger Trümmerfrauen zusammengedrückt und über den absenkbaren Orchestergraben entsorgt werden. Der Tanz – so zumindest scheint Bordin das Phänomen „Next Level Zukunft“ zu deuten – muss sich fortan ohnehin unseren digitalen Errungenschaften, vielleicht bald bloß noch virtuellem Partnering und der 360° Grad-Wahrnehmung hinter klobigen Brillen stellen.
An den Enden der zu Beginn quer durch den Raum gespannten Seile schweben große Ballons. Als die Tänzer diese zum Schluss des ersten Bildes einholen und bündeln, entsteht unter einer hauchdünnen, wasserlöslichen Plane eine Art Pavillon-Konstrukt. Es soll, optisch im Mittelpunkt, die Zeit der Romantik symbolisieren. In „Zukunft braucht Herkunft #soooeintheater“ endet die Epoche rabiat mit dem verheerenden Karlsruher Theaterbrand im Jahr 1847 und dem Herablassen des (echten) Eisernen Vorhangs.
Choreografisches und darstellerisches Highlight zuvor: der geschichtsträchtige Pas de quatre der Jahrhunderttänzerinnen Carlotta Grisi, Marie Taglioni, Lucile Grahn und Fanny Cerrito. Eine herrliche Persiflage inklusive Selfie-Gag. Lustig anzuschauen – egal ob man die Namen der Ballerinen schon mal gehört hat oder nicht. Um ins Reich der Sylphiden und Willis zu kommen, muss Bordin Formationen wie diese nur zweimal klonen. Aufträge zu besonderen Gelegenheiten machen eben erfinderisch. Wenn drei Jahrhunderte in Schallgeschwindigkeit durcheilt werden, darf man sich um tiefer schürfende Ernsthaftigkeit gern drücken.