Zweifelsohne ist das ungemein interessant, sehr aufschlussreich und überaus authentisch. Aber ein bisschen ermüdend ist es auch. Das Setting, das Autor und Regisseur Nuran David Calis für sein Stück „Istanbul“ benutzt, gleicht denen, die er schon in den beiden vorangegangenen Stücken seiner Trilogie – „Die Lücke“ und „Glaubenskämpfer“ – benutzt hat. Hier arbeitet er unter anderem den Anschlag in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004 und das Thema Religion auf, und das nur wenige Meter von eben jener Keupstraße entfernt, die einst Ort des Attentats war. Getragen wird der Abend nicht nur von Schauspielern, sondern weitaus stärker von Protagonisten, die dort wohnen, und genau dort auch im ganz normalen Leben als Teppichhändler, Musiker oder Mutter leben.
Das schafft natürlich an sich schon eine Authentizität, die man eigentlich nicht mehr zu inszenieren braucht, weil es eben authentischer nicht geht. Allerdings stellt sich auch die Frage, warum man dann überhaupt etwas inszeniert. Was im Depot 2 des Kölner Schauspiels geboten wird, ist im Grunde genommen eine äußerst spartanisch inszenierte Podiumsdiskussion, die nur selten in dramaturgischer Weise verdichtet oder gar auf eine andere, eine übergeordnete Ebene gehoben wird. Diese Momente haben es dann allerdings in sich. Wenn etwa der Autor Do?an Akhanl? von seinem Gefängnisaufenthalt berichtet, Ayfer ?entürk Demir sich freimütig dazu bekennt, beim Referendum mit Ja gestimmt zu haben, Ismet Büyük ein flammendes Plädoyer für sein Vaterland hält, Ines Marie Westernströer eingangs aus dem Gefängnisbericht der Autorin Asl? Erdo?an rezitiert oder Kutlu Yurtseven Türken wie Deutschen immer wieder den Spiegel der eigenen Selbstgefälligkeit vorhält.
Manchmal verdichtet sich der Monolog der Protagonisten fast unmerklich zu einem wirklich intensiven Moment, vor allem dann, wenn er szenisch zugespitzt wird. Etwa wenn Akhanl? von der Folter im Gefängnis berichtet und dabei nur stumm und anklagend in eine Kamera blickt, während der eigentliche Text von dem Schauspieler Seán McDonagh mit Rücken zur Kamera vorgetragen wird. McDonagh sorgt auch für einen anderen Moment, der in seiner theatralischen Zuspitzung wirklich unter die Haut geht. Mit Turban auf dem Kopf und gespenstisch illuminiert setzt er zu einem Exkurs über die Eroberung Istanbuls 1453 an, der sich mehr und mehr zu einer fanatischen Suada über die Türkei und das Türkentum entwickelt – und sich als Auszug aus einer Erdogan-Rede entpuppt.
Zumeist aber wird geredet, geredet und – geredet. Über das Nationalgefühl und die Befindlichkeit der hier lebenden Türken und ihr Gefühl, weder hier noch dort willkommen zu sein. Über Folter, die ungebrochene Liebe zum Vaterland, den Putsch 2016 und über die Zustände in den Gefängnissen. Dabei werden wichtige, für Außenstehende oft nicht nachvollziehbare historische und mentale Hintergründe aufgezeigt. Denn eines zeigt dieser Abend mehr als nachdrücklich: im Grunde genommen sind sich beide Kulturen immer noch fremd, ist das gegenseitige Miteinander ein höchst zerbrechlicher und oberflächlicher Status Quo, dem es an einem wirklich tragfähigen Fundament fehlt. Vor allem ist dieser Abend aber ein nachdrückliches Plädoyer für Toleranz und Respekt, auch wenn einige mitunter für beide Seiten unangenehme Wahrheiten aufs Tapet kommen.
Das geschieht alles in allem sehr zivilisiert und respektvoll. Hier wird keiner niedergebrüllt oder ausgegrenzt. Es wird vielmehr wie bei einer schulbuchmäßigen Podiumsdiskussion berichtet, geschildert, dargestellt, argumentiert. Aber insgesamt bleibt auch vieles zu eindimensional. Über weite Strecken ist es zwar interessant und aufschlussreich, als Außenstehender zumindest teilweise hinter die Kulissen der türkischen Seele blicken zu können, doch bleibt es bei diesem subjektiven Blick, der sich in den Statements der Betroffenen äußert. Szenische oder dramaturgische Mittel zur Verdichtung, Überspitzung, Karikierung, Hinterfragung oder Distanzierung werden kaum genutzt. Letztendlich wirft dieser Abend zwar wichtige und richtige Fragen auf, deren Beantwortung man natürlich nicht erwarten kann. Oft genug aber reden die Protagonisten auch hier aneinander vorbei und bilden nur das ab, was die Realität ohnehin schon offenbart. Mehr nicht. Keine Frage, dies ist ein wichtiger Theaterabend. Einer, der schwierige Fragen stellt und keine einfachen Antworten dafür parat hat. Aber ist das deswegen schon Theater?