Foto: Das Ensemble sitzt zusammen im Flieger. © Marie Liebig
Text:Volker Tzschucke, am 23. Februar 2025
Sebastian Ritschel bringt das Broadway-Musical „Come From Away“ erstmals auf eine deutsche Bühne. Es erzählt die Geschichte von den gestrandeten Passagierflugzeugen, die nach „09/11“ den US-amerikanischen Luftraum verlassen mussten und für kurze Zeit in der kanadischen Stadt Gander Zuflucht fanden. Dabei zeigt das spielfreudige Ensemble am Theater Regensburg, dass Glück und Tragik eng beieinanderliegen.
Musical-Shows vom Broadway oder vom West End auf eine deutsche Stadttheaterbühne zu holen, ist ein langwieriger Prozess mit unklaren Erfolgsaussichten. Das Theater Regensburg, noch Stadt-, ab kommendem Jahr dann Staatstheater, hat sich vor geraumer Zeit auf den Weg gemacht, die Aufführungsrechte für „Come From Away“ zu erhalten. Das Stück der Kanadier Irene Sankoff und David Hein erlebte 2017 seine Premiere am Broadway und erhielt zahllose Auszeichnungen, darunter Tony Award und Olivier Award. Acht Jahre später gibt es „Come From Away“ in einer stimmigen Übersetzung von Sabine Ruflair nun auch in Deutschland.
Das Stück greift eine Episode rund um „09/11“ auf. Nachdem das erste Flugzeug von Terroristen ins World Trade Center gesteuert worden und der Kontakt zu einigen anderen Fliegern verloren gegangen war, sperrten die USA ihren Luftraum. Was in der Luft war, musste schnellstmöglich landen – und 38 Passagierflugzeuge strandeten in Gander, Neufundland. An einem „kleinen Ort auf einem riesigen Felsen im Ozean“ wie es im Eröffnungssong „Welcome to the rock“ heißt. 9.000 Einwohner gibt es in Gander und Umgebung. Der Flugplatz stammt noch aus einer Zeit, an dem Non-Stop-Transatlantikflüge ein Ding der Unmöglichkeit waren. Und ganz unverhofft ist Gander nun „mittendrin und außen vor“, „am Puls der Geschichte und am Ende der Welt“ – überschwemmt von über 6.500 Fluggästen und Crews, von denen niemand weiß, wie lang sie bleiben werden und ob nicht womöglich sich unter ihnen noch ein paar weitere Terroristen verstecken: Das Misstrauen nach den schockierenden Ereignissen sitzt tief.
Krisengemeinschaft
Sankoff und Hein erzählen im Folgenden, wie Alltagsprobleme in den Hintergrund treten, Hilfe organisiert werden muss. Sie zeigen die anfängliche Unsicherheit auf beiden Seiten, in der Einwohnerschaft wie unter den Gästen, die noch gar nicht wissen, was in New York und anderswo geschehen ist: Warum darf man nicht aus dem Flieger heraus? Warum hat die Stewardess so eine zittrige Stimme? Was bedeutet es, dass am Rollfeld Soldaten stehen? Wieso hält dieser Bus mitten im nirgendwo? (ein Elch auf der Straße!) – Und auf der anderen Seite: Wie organisiert man Unterkünfte für Tausende Menschen? Wie schafft man genügend Essen heran? Wer kocht koscher für Juden und fleischlos für Vegetarier? Wer spricht russisch, spanisch, moldawisch? Und: Ist diesem Ägypter zu trauen? Ganz eindeutig ist der doch ein Moslem.
Die Gander‘schen Alltagsprobleme – eigentlich befinden sich die Busfahrer im Streik – müssen da schnell überwunden werden. Stattdessen reagiert die Stadt mit überschäumender Herzlichkeit und unbändigem Organisationswillen. Fünf Tage bleiben die unerwarteten Gäste. Viele von ihnen werden später mit schlechtem Gewissen abreisen, weil sie sich in Gander so wohl gefühlt haben, während die Welt, die man kannte, sich auflöste. Erzählt wird dies in einem dokumentarischen Stil. Sankoff und Hein haben mit den Einwohnern der Stadt wie mit den Gestrandeten gesprochen und ihre Geschichten in eine Story gepackt.
Einzelschicksale in der Gruppe
An die 40 Rollen umfasst das Textbuch, verteilt auf zwölf Darstellende. Nicht jede Figur wird plastisch, einige – Kardiologen, ein ziemlich gutaussehender Pilot, der spanischsprachige Englischlehrer – sind eher unterhaltsame Karikaturen. Doch ein paar Geschichten erhalten größeres Augenmerk: Die von Kevin und Kevin etwa, die sich nicht als schwules Pärchen zu erkennen geben wollen – wer weiß, wie diese Kanadier ticken. Oder die Zufallsbekanntschaft von Diana und Nick, musical-untypisch eher ältere Semester, die hier nochmal einen zweiten Frühling erleben dürfen. Oder die von Hannah, deren Sohn Feuerwehrmann in New York ist, am 11. September eigentlich einen freien Tag hat – und doch vermisst wird.
Glück und Tragik liegen eng beieinander. Die Solidarität unter den Zusammengeworfenen im bewegenden Song „Gebet“, in dem sich die Stimmen dreier Weltreligionen vermischen, wird direkt im Folgesong „Wir sind durch“ konterkariert, wo Alltagsrassismus und akute Angst eine unschöne Melange bilden. Wenig später dann ausgelassene Heiterkeit „Screech in“ – wenn die Passagiere mit viel Alkohol zu Ehren-Neufundländern werden.
Ausbalanciertes Team
Regisseur Sebastian Ritschel hat ein feines Gespür für die feinen Nuancen, die im ungewöhnlichen Setting liegen. Und er hat ein Ensemble zur Hand, das für ein Stadttheater ungewöhnlich ausgeglichen und zugleich hochklassig besetzt ist – es mag von Vorteil gewesen sein, dass Ritschel auch Intendant des Hauses ist. Da sticht niemand groß heraus, überraschenderweise auch nicht Wietske van Tongeren, die als Pilotin Beverley mit „Der Himmel geht auf“ („Me and the sky“) die einzige große Solo-Ballade singen darf. Vor allem aber, und das ist noch viel höher zu bewerten, fällt niemand ab: Die Rollen sind durchweg schlüssig besetzt, die Freude am Ensemblespiel ist jedermann anzumerken, die von Folk- und Shanty-Tönen durchsetzte Musik, die unter anderem auf den Einsatz von Mandoline, Whistle oder Bodhrán setzt, tut ein Übriges.
Inszenatorisch erinnert vieles – vom mit wenigen Tischen und Stühlen ausgestatteten Bühnenbild über den Einsatz der Drehbühne (Ausstattung: Kristopher Kempf) bis hin zu den Tanzchoreos (Gabriel Pitoni) an das, was man aus den englischsprachigen Inszenierungen kennt. Doch birgt das eben auch ein – hier bestens eingelöstes – Qualitätsversprechen und gehört in gewisser Weise wohl mit zum schwierigen Spiel, ein englisches Erfolgsstück auf die Bühne eines deutschen Stadttheaters zu bringen. Und immerhin: Wo sieht man schonmal einen echten Intendanten beim umjubelten Schlussbild in einer Chorus Line mittanzen? Das kann selbst der Broadway nur selten bieten.