Der Wiesbadener Intendant Uwe Eric Laufenberg hat es dennoch gewagt, eine szenische „Matthäus-Passion“ auf den Spielplan zu setzen. Mit Konrad Junghänel am Pult setzt er auf einen bewährten und erfahrenen Partner, der als einer der herausragenden Protagonisten der historischen Aufführungspraxis der Garant für halbwegs authentische Klänge ist – soweit das mit einem „normalen“ Opernorchester und -chor eben möglich ist. Regisseurin Johanna Wehner und ihr Team (Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Su Bühler) sind der Nachwuchsgeneration bereits entwachsen und gehen – verglichen mit Castelluccis heiß-kaltem Hamburger Experiment – einen eher konservativen Weg mit Bachs Passion zwischen angedeuteter Erzählung, Abstraktion und oratorischen Tableaus.
Volker Hintermeier hat ein gigantisches Kreuz schräg auf die Bühne gewuchtet, das steil abfällt und bis in den Orchestergraben hineinragt. Dieses Kreuz teilt die Bühne in vier Räume, die von Chor und Solisten bespielt werden, aber auch das mächtige Symbol selbst dient als gefährlich abschüssige Spielfläche. Hinter dem Kreuz lässt sich hin und wieder im Dauerdampf des Pyronebels eine Kirchenfenster-Rosette erahnen, über dem Kreuz hängt hoch oben eine weitere Kreuzform, an der Scheinwerfer befestigt sind, die aber erst ganz am Schluss zum Einsatz kommen. Sonst herrscht überwiegend schummrige Dunkelheit auf der Bühne und Su Bühler hat für alle Beteiligten ausschließlich schwarze Kostüme schneidern lassen, die stilistisch quer durch die Zeiten von elisabethanischer Tracht bis in die Gegenwart reichen. Einzig Konstantin Krimmel als Jesus trägt zur schwarzen Hose ein strahlend weißes Hemd.
Regisseur des Bühnengeschehens ist der Evangelist (Julian Habermann mit leichtgewichtigem, geschmeidigem Tenor), der in flottem Tempo erzählt und den jeweils handelnden Personen die Zeichen zum Auftritt gibt. Habermann muss auch die betrachtenden, hoch anspruchsvollen Tenorarien übernehmen, was ihn bis an die Grenze fordert und den Krafteinsatz in den Höhen dämpft.
Die Regie hütet sich klugerweise vor schlichten Dopplungen oder einer Eins-zu-Eins-Nacherzählung dessen, was der Evangelist berichtet oder die Accompagnato-Rezitative schildern. Johanna Wehner schafft vielmehr Spannungsräume durch Konstellationen, manchmal auch durch kollektive Chorgesten, die Situationen suggerieren, die emotional nachvollziehbar, aber szenisch mehr oder weniger unkonkret bleiben. Es gibt weder Requisiten wie etwa eine Dornenkrone noch nachgespielte Szenen wie in einem Passionsspiel oder einem der zahllosen Sandalenfilme. Zumal man damit nicht weit käme in der Matthäus-Passion, die zwar wilde Turba-Chöre und konfliktreiche Szenen bietet, aber in weiten Teilen aus betrachtenden Arien besteht, in denen die Handlung stillsteht. Das löst Wehner, indem sie die Solisten das Verinnerlichte der Arien in Bewegung übersetzen lässt. Wenn etwa die famose Anna El-Khashem (die im Oktober den Bertelsmann-Wettbewerb „Neue Stimmen“ gewann) in der zweiten Arie „Ich will Dir mein Herze schenken“ auf dem Kreuz einen schwärmerischen Freudentanz aufführt.
Die Chöre sind durch ihre individuellen Kostüme und viele Einzelaktionen nicht als Masse inszeniert, müssen aber aus aufführungstechnischen Gründen doch überwiegend im Kollektiv auf ihrer jeweiligen Bühnenseite verharren. So kann der Abend eine gewisse oratorische Steife doch nicht ganz abschütteln, obwohl er im zweiten Teil zunehmend an konzentriertem Ernst und Atmosphäre, auch an Bewegung gewinnt.
Die musikalische Seite ist zu loben, wenn auch mit Abstrichen. Im Eingangschor klingen die beiden Chor-Kollektive noch arg matt, auch stören bei den ersten Sopranen stark vibrierende Einzelstimmen. Das glättet sich mit der Zeit, doch bleibt die Textverständlichkeit schlecht und auch die von spezialisierten Ensembles gewöhnte Plastizität der Phrasierung, die klare Zeichnung der Koloraturen lassen zu wünschen übrig. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden ist näher dran an Konrad Junghänels strukturierenden Händen und sitzt auf der Stuhlkante. Schöne Bläser-Soli lassen aufhorchen, die Continuo-Gruppen sind auf Zack. Junghänel geht im flotten Marsch durch die Partitur, präpariert manches ungewohnt trocken heraus und baut bei den Chorälen häufig interessante Terrassen-Dynamik-Effekte ein. Neben der herausragenden Anna El-Khashem überzeugt auch Anna Alàs i Jovés hell timbrierter Alt mit emphatischer Gestaltung und glühender Stimmgebung. Konstantin Krimmels Bariton klingt als Jesus erfrischend jung, warm timbriert und kernig, Wolf Matthias Friedrich gibt den Bassarien rhetorische Glaubwürdigkeit und reiche Farben, Benjamin Russell hat als Judas und Pilatus starke Kurzauftritte. Fazit: ein in der Summe überzeugender Abend.