Text:Jens Fischer, am 8. März 2019
Empörend schäbig sind die Erfolgsstrategien der globalisierten Ökonomie, tragisch schäbig ist die moralische Verfassung der Protagonistin Nadja, eine investigative Journalistin und Dokumentarfilmerin. Betont schäbig hat Maria-Alice Bahra die Raumbühne des Theaters Oberhausen ausgekleidet. Spanplatten bedecken den Boden, verknitterte Plastikplanen hängen von der Decke. Sie teilen den Saal labyrinthisch in Gänge und Räume, dienen auch als Leinwände. Denn das Publikum ist an drei Raumecken auf locker arrangiertem Plastikgestühl drapiert und sieht so immer nur einen Bruchteil des Geschehens, eine dichte Collage aus inneren Monologen und Dialogen, die als Live-Stream projiziert wird. Hinzu kommen Erinnerungsbilder, Szenen aus Nadjas aktuellem Film, Wortkolonnen und surreal anmutende Sequenzen. Durch diese Videoinstallation irrlichtert Nadja als Ich-Instanz, auch wenn sie distanzierend gern in der 2. Person Singular von sich spricht. Regisseur Florian Fiedler lässt die deutsche Erstaufführung von Dominik Buschs Lehrstück „Das Recht des Stärkeren“ wohl in ihrem Hirn spielen. Als Nadjas Versuch, rhetorischen Glanz und faktisches Elend ihres politisch engagierten Bildkunstschaffens zu verarbeiten.
Denn gerade stellt sie einen Film fertig über die ökologischen Katastrophen der Steinkohleförderung in Kolumbien, die Ausbeutung der Bergleute und Vertreibung von Kleinbauern durch multinationale Rohstoffkonzerne. In ihrem Auftrag schüchtern Paramilitärs die indigene Landbevölkerung ein, terrorisieren und morden auch, wenn sich jemand dem habgierigen Ressourcenabbau widersetzt. Nadja (Elisabeth Hoppe) hat mit Àlvaro (Burak Hoffmann) einen Kronzeugen dafür vor ihrer Kamera. Will damit weltweit aufrütteln. Dass dieses Stück daher unbedingt im Ruhrgebiet gezeigt werden müsse, behaupten Demonstranten vor dem Theater wie auch der Programmzetteltext. Musste die Region doch gerade aus dem Steinkohlebergbau aussteigen, weil das schwarze Gold beispielsweise aus Kolumbien viel günstiger ist und sich dort auch die Essener Energiekonzerne Eon und Steag bedienen, an der die Energieversorgung Oberhausen AG beteiligt ist. Also auch direkt mitschuldig?
Busch verbindet die politische mit der privaten Ebene, indem er Nadja mit ihrem Vater (Klaus Zwick) diskutieren lässt, der Chef eines Unternehmens ist, das mit Kohleimporten Geld verdient. Er behauptet, die Handelswege und ökonomischen Verflechtungen seien viel zu unübersichtlich für irgendwelche Verantwortung seinerseits. Nadja meint, gesteigerte Komplexität dürfe nicht Ausrede für mangelnde Moral sein. Der Vater wiederum behauptet als Naturgesetz des neoliberalen Kapitalismus, eine Nachfrage habe immer ein Angebot zur Folge und wenn nicht er mit Blutkohle handele, dann tue es jemand anderes. Sei dann nicht die Nachfrage schuld – also schlecht, böse? Also wir alle, die von billigem Kohlestrom profitieren? Direkt wird das Publikum mit dieser Frage konfrontiert. Antworten haben die Premierenbesucher keine. So legt der Vater nach. Wenn die Starken Erfolg hätten, würden auch die Schwachen etwas davon haben. Zum Beispiel Arbeit. Jetzt reicht es Nadja. Ganz direkt fragt sie: Macht man Geschäfte mit Verbrechern? „Bist du ein Mörder?“ Die Antwort sind Ausreden – Europa leide an einem Schuldkomplex, überall regierten zudem Neid und Missgunst. Obwohl seine Verstrickung nie aufgeklärt wird, hat sich der Vater so endgültig ins Abseits argumentiert, ist zudem mit Händen in den Hüften und der Arroganz der Macht recht eindimensional als rücksichtsloser Unternehmer angelegt. Ganz in Nadjas Sinn. Geradezu beispielhaft will sie mit solchen Szenen in ihrem Film die Realität nicht ambivalent, sondern eindimensional abbilden.
Darüber gerät sie mit ihrem Freund Simon (Clemens Dönicke) in Streit. Um die in Kolumbien gefilmten Opfer nicht zu diskreditieren, will sie Bilder zeigen, wie diese einen Esel streicheln, nicht aber wie ein Pferd geschlagen wird. Nadja: „Ich will keinen Film, der sagt: Die Welt ist grau; ich will keinen Film, der relativiert; ich will einen Film, der Stellung bezieht, gegen die Rohstoffhändler, gegen die Paramilitärs, gegen Ausbeutung, gegen Gewalt und für die Menschen dort.“ Simon: „Es gibt ein Grau der Indifferenz, der Ignoranz, ein Grau des Mir-doch-egal; aber es gibt auch ein Grau der Differenziertheit und der Verantwortung“, ein Grau dass dem Zuschauer die freie Entscheidung lasse.
Ob Nadja Idealistin oder Egoistin ist, klärt das Finale. Sie reißt das Plastikgepränge aus seinen Halterungen. Bühne frei fürs gebrochene Versprechen, Àlvaro dürfe entscheiden, ob und wie seine Aussagen Verwendung finden. Nun bittet er, seine Sentenz aus dem Film herauszuschneiden, sonst müssten er und seine Familie sterben. Nadja sagt zu – und lässt es sein. Denn sonst fehlt ihrer filmischen Anklage – als nächstem Schritt ihrer Künstlerkarriere – der entscheidende Beweis. Wenn sie mit Àlvaro einen Menschen rette, könne sie nicht mehr den vielen helfen. Also wird er geopfert. In Kolumbien mit der Motorsäge zerlegt. Und Nadja in Europa gefeiert. Nun kann sie auf Augenhöhe mit ihrem Vater über Schuld diskutieren.
Jenseits der immer wieder poetisch eingeflochtenen stimmungsmacherischen Anflüge entwickelt der Text in der feinen rhythmischen Diktion des famosen Ensembles einen fiebrigen Groove, mit dem die Diskurse eine enorme Intensität gewinnen, sowohl intellektuell wie emotional. Die fragmentarisch schillernde Inszenierung nimmt dem Plot das arg Konstruierte. Hält das moralische Dilemma aber deutlich weniger in der Waage als etwa Ferdinand von Schirachs „Terror“. Keine Sympathie für den Vater, keine Zweifel für die Tochter. Eine eindeutige Angelegenheit wider das Recht des Stärkeren. Wer wollte widersprechen?