Foto: Marc-Philipp Kochendörfer und Lilly Forgach © Jean-Marc Turmes
Text:Anne Fritsch, am 3. Juni 2016
Ein Mann sitzt auf einer Bank. Sein Bein ist nur noch ein blutiger Stumpf. Der Rest abgerissen von einem Zug im Tunnel von Calais. Der entzündete Stumpf will nicht in die Prothese passen, der Mann keine Krücken benutzen. Beim Versuch, nach der Prothese zu hangeln, geht die Krücke entzwei, der Mann betrachtet die Teile, nimmt das untere – und flötet darauf.
Jochen Schölch inszeniert am Münchner Metropoltheater die Deutsche Erstaufführung von Ariane Mnouchkines Fluchtepos „Die letzte Karawanserei“ („Le dernier caravansérail“). Das Stück basiert auf über 400 Gesprächen mit Flüchtlingen und Asylsuchenden, die Ariane Mnouchkine zwischen 2001 und 2003 an den verschiedensten Orten der Welt geführt hat. Entstanden ist eine lose Sammlung von Szenen und Momentaufnahmen, die aus der anonymen Masse der Flüchtlinge Individuen herausfiltern, den Einzelnen und sein Schicksal ins Blickfeld rücken. Mnouchkine selbst inszenierte den Text mit ihrem Théâtre du Soleil als poetisches Bühnenspektakel, bei dem graue Tücher zu Wellen wurden und die Schauspieler scheinbar über dem Boden schwebten.
Schölch steht Mnouchkines Ansatz, Alltagsdinge theatral zu verwandeln und zu verzaubern, in nichts nach und findet doch eine ganz eigene Bühnensprache. Zu Beginn, wenn Flüchtlinge in Zentralasien in einem Korb an einem Seil einen reißenden Fluss überqueren, projiziert er das tosende Wasser auf einen Gazevorhang (Bühne: Thomas Flach, Video: Daniel Holzberg). Die Schauspieler stehen dahinter, scheinbar mittendrin kämpfen sie sich über den Strom. Immer wieder wird der wackelige Korb nach hinten gezogen, verschwindet scheinbar komplett in den Fluten. Nicht alle schaffen es hinüber. Aus dem Schmerz wird Hass. Es wird geschossen. Die nächste Szene spielt in einem Aufnahmelager in Calais: Wir sehen Zuhälter, die sich am Elend der Flüchtlinge bereichern. Frauen, die sich aus der Hoffnung auf ein besseres Leben heraus prostituieren. Es sind düstere Szenen über das, was der Krieg mit den Menschen macht. Der Krieg, der Mord, Rache, Plünderungen, Prostitution, Ausbeutung und Flüchtlingsströme generiert – die Elendskarawanen der Neuzeit.
Der Text ist eine lockere Szenenfolge, eine Collage von Eindrücken und Schicksalen. Nicht alle Erzählstränge sind gleich intensiv, manche Szene bewegt sich am schmalen Grat zwischen Emotion und Kitsch. Doch Schölch findet immer wieder zurück in die Realität, in der jeglicher Anflug von Kitsch schnell ausgetrieben wird. Da ist die kleine Liebesgeschichte in Kabul zwischen Fahwad und Azadeh, die mit einer Hinrichtung endet. Weil ihre Liebe wie so vieles andere in diesem Land verboten ist. Da ist der Vater in Teheran, der sein Haus verkauft, um seinen Kindern die Flucht zu ermöglichen, nachdem die Tochter nach einer Demonstration ausgepeitscht wurde. Die Lügen am Telefon: von Paris, dem Haus an der Champs Elysées und der Familie, bei der sie wohnen. Weil die Kinder dem alten Vater in der Heimat nicht erzählen wollen vom Elend des Aufnahmelager, in dem sie gestrandet sind. Wo ein meterhoher Gitterzaun sie trennt von der erhofften Freiheit, die dann so oft im Tunnel von Calais endet, wo die, die genug Geld haben, um durch das Loch im Zaun kriechen dürfen, sich an einen Zug nach England klammern. Versuchen dürfen, zu überleben.
Das starke Ensemble schlüpft von einer Rolle in die andere, zeigt sich ausgesprochen wandelbar. Der Abend ist intensiv, lang und grausam. Er richtet den Blick auf die Gründe, die Menschen in die Flucht treiben, die Unfreiheit, die Verfolgung und die Unterdrückung. Er macht die Gefahren, in die sie sich begeben, ebenso greifbar wie die bürokratischen Erniedrigungen. Endlose Befragungen. Woher man kommt. Wie man gekommen ist. Warum man gekommen ist. Die Suche nach einer Lücke im Leben. Einer Ungereimtheit. Ein Abend auch darüber, was die Macht mit den Menschen macht. Und sei es nur die Macht über ein kleines Loch in einem hohen Zaun.