Foto: Szene aus "Wild Gras" vom Beijing Dance Theater © Andreas Beetz
Text:Andreas Berger, am 12. Mai 2014
Die weiche Schönheit des chinesischen Tanzes ist oft vielleicht nur die äußere Verkleidung viel existentiell-konkreterer Zustände, als wir im Westen ahnen mögen. Und natürlich Anknüpfungspunkt an eine Tradition, die in der Wirklichkeit auch längst erledigt ist. Auf diesen Gedanken bringt einen jedenfalls Wang Yuanyuans dreiteilige Choreographie „Wild Grass“, die sie mit dem Beijing Dance Theater als europäische Erstaufführung beim Movimentos-Festival der Autostadt in Wolfsburg zeigte.
Zuerst fließende, rituell-langsame Gesten unter blassem Vollmond, Nebel wallen, weiße Bergspitzen schimmern im Hintergrund, als betrachte man eine alte Tuschzeichnung. Die Tänzer streuen Blüten, einer im roten Trikot muss als Außenseiter seine Rolle finden, scheint aber auch Antrieb des Geschehens zu sein. Einsam tropft dazu Klaviermusik.
In stetem Schwung ziehen sich Paare am ausgestreckten Arm aneinander, drehen sich, heben sich, recken das Bein klassisch in die Senkrechte. Zwei Gruppen begegnen und verzahnen sich. Alles klassische Formen, aber auch Ausdruck von gesellschaftlichen Kräften. Der Rote wird abgeräumt, wirbelt wieder auf. Am Ende stürzt er sich in die erhobenen Arme der Gruppe. Integration oder Selbstaufgabe, das bleibt die Frage. Der Titel „Dead Fire“ legt letzteres nahe. Die individualistische lebensrote Flamme verzehrt sich.
Der ewige, eine kommunistische Industrie-Diktatur wie technisierte kapitalistische Systeme bestimmende Konflikt von Einzelnem und Masse wird im zweiten Teil, „Farewell, Shaddows“, noch härter ausgetragen. Da exerzieren die zarten Tanzathleten zu treibendem Drum’n’Base unter tiefhängenden Scheinwerfern zackig-spitze Bewegungen. Bleibt das Umfeld auch schwarz, so gleißt die Tanzfläche im Licht. Hier sieht jeder jeden. Hier schubst man den Körper des anderen an, so dass er in Gang kommt und die Glieder bewegt wie fremdbestimmt. Der Mensch als Maschine. Spitze und Pirouette passen dazu. Zuletzt kommt die Chorus Line bedrohlich an die Rampe, Blackout. Hier tanzt keiner mehr aus der Reihe. Schatten, dunkle Identitäten gibt es nicht, nur vollkontrollierte Sichtbarkeit im Rhythmus des Systems.
Im dritten Teil wird die Schraube gänzlich angezogen. „Dance of extrimity“ zeigt ein Feld mit verdorrtem Gras, an einer Ecke leicht erhoben für den Aufpasser. Zu expressivem Streichquartett ergehen sich die Tänzer wiederum in beschleunigter, durch zackige Armbewegungen geprägter Zeichensprache. Oft synchron. Immer wieder bleibt einer, manchmal mehrere auf dem Spielfeld liegen, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Am ausgestreckten Arm werden sie letztlich fortgezerrt.
Vom Rand aus wagt dann jeder ein Solo. Alle liegen, dann erheben sich immer mehr, doch der Aufpasser wirft sie nieder. Man fühlt sich an den Platz des himmlischen Friedens erinnert. Denn nun zieht der Aufpasser die Kandarre an: Stetig zieht er an einem Endlosseil, während die Tänzer im Gänsemarsch das Spielfeld umschreiten. Der Kreis, den sie laufen, wird immer enger. Die Konformität ist auf den Höhepunkt getrieben, der Raum für Freiheit wird immer kleiner.
Eine so konkret politische Interpretation mag zu überdeutlich klingen, doch man kommt bei aller ästhetischen Verbrämung kaum an diesen Assoziationen vorbei. Wang selbst hat diesen gesellschaftlichen Hintergrund scheinbar mythischen Erzählens im Interview betont. „Die Unfähigkeit, man selbst zu sein“, sei ihr Thema. Der durch das System ausgebremste Individualismus kommt in „Wild Grass“, das zuletzt verdörrt ist, klar zum Ausdruck. Es ist bittere Poesie, die einen traurig berührt zurücklässt.