Foto: "Hochzeit bei den Cromagnons" am Staatstheater Kassel. Anke Stedingk (Nazah, Mutter), Sabrina Ceesay (Nelly, die Älteste), Christoph Förster (Neel, der jüngere Sohn) © N. Klinger
Text:Juliane Sattler, am 13. April 2015
Vielleicht ist es Nelly, die uns durch den brutalen Sound des Krieges hilft; Klänge eines Bombardements, das uns zusammenzucken lässt, minutenlanger, ins Groteske übersteigerter Lärm, wir sind Gefangene im Lärmraum. Ausgeliefert. Aber Nelly, dieses Dornröschen der Neuzeit, streift sich gerade dann ihr Brautkleid aus weißen Fetzen über. Mitten im Bombenhagel träumt sie sich weg, und zuweilen, wenn die Welt da draußen gar zu schlimm ist, fällt sie in einen tiefen Schlaf. Wie im Märchen.
Auf der Bühne vom Kasseler tif wird das Stück „Hochzeit bei den Cromagnons“ von Wajdi Mouawad zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht. Bereits 1992 hatte der Autor diese Groteske geschrieben, doch das Stück blieb ungespielt. Inzwischen ist der gebürtige Libanese längst zum erfolgreichen Theaterautor avanciert, sein Stück „Verbrennungen“ wurde an unzähligen Theatern aufgeführt, der Stoff zum Film gemacht und für den Oscar nominiert. Dass das Staatstheater Kassel jetzt Mouawds brillanten Erstling auf die Bretter bringt, zeugt von großem Mut. Denn leicht spielbar ist dieses Stück, in dem der Autor inkorrekt und böse eine vom Bürgerkrieg verwundete und versehrte Gesellschaft zeigt, sicher nicht.
Die Cromagnons, Höhlenmenschen mit hautähnlicher Fetzenkleidung (Bühne und Kostüme: Daniel Roskamp), leben in einer Zeit, in der der Krieg die Städte weggegebombt hat. In einer Höhle aus Wellblechwänden, in der die Schauspieler den Kriegssound durch das Bearbeiten des Blechs erzeugen (Musik: Eric Schaefer), halten sie ihren kleinen Alltag aufrecht und überleben in ihren Träumen. Und so bereiten sie alle, Mutter Nazha (Anke Stedingk), Vater Neyif (Uwe Steinbruch), Sohn Neel (Christoph Förster) und Tante Souhayla (Eva-Maria Keller) für die jüngste Tochter Nelly (Sabrina Ceesay) die Hochzeit vor. Der Hammel wird vom Vater herbeigezerrt, die „Tafel“ von der Mutter unter dem Kronleuchter gedeckt, die Tante bringt die Suppe vorbei, man streitet sich über den Salat, über die Hose vom Sohnemann. Der ganz normale Familienwahnsinn ist das.
Mouawad hat eine raue, rohe Komödie geschrieben, und sie dann, ganz surreal, ganz absurdes Theater, immer wieder mit Inseln von Poesie und Visionen durchzogen. Wenn die somnabule Nelly mit dem Kinderlächeln ihrem jüngeren Bruder begegnet, auch er ein vom Krieg zerstörter Träumer, dann bekommt das vorher so derbe Theater Flügel: Nelly ist die elementare Unschuld in einer brutalisierten Welt, ihre Sätze sind kleine Kostbarkeiten, auch wenn sie die Grausamkeit des Krieges beschreiben: „Wie kann etwas so traurig, so lustig sein.“ Sabrina Ceesay spielt die Nelly wie aus einer ferne Zeit herbeigeweht. Und wenn sie ganz zum Schluss mit ihrem Bräutigam davon geht, ahnen wir, dass er vielleicht doch ein ganz anderer ist. Vielleicht der Tod?
Wie Regisseur Gustav Rueb seine Inszenierung in diesem fast atemlos wirkenden Wechsel zwischen Groteske und Träumerei, zwischen derber Realität und poetischer Vision vorwärts treibt, ergreift, berührt, verschreckt. Lässt den Zuschauer mitschwingen im Wechsel der Stimmungen. Wir lernen so vielleicht die Mutter (Anke Stedingk) verstehen, die so rabiat und dreist an ihrem Leben und Lügentraum festhält. Verwundet und verwundert gibt Christoph Förster dem Jungen Neel, der so gerne Kind geblieben wäre, ein unnachahmliches Profil. Bravo. Der älteste aus dem Krieg heimgekehrte Sohn Walter (Artur Spannagel) ist gefährlich nah an der Karikatur eines IS-Kämpfers.
Der Krieg im Nahen Osten – wie kann man dieses Grauen spielen? In Kassel hat man es versucht, und eine Möglichkeit gefunden. Mit diesen Schauspielern konnte es gelingen. Stürmischer Beifall zur Premiere.