Foto: Junho Lee (oben Mitte) und Tobias Haaks (2.v.r.) in der Uraufführung „Wolf unter Wölfen" am Theater Koblenz © Matthias Baus für das Theater Koblenz
Text:Andreas Falentin, am 22. November 2019
Der Koblenzer Intendant Markus Dietze hat bei dem deutsch-dänischen Komponisten Sören Nils Eichberg dezidiert eine Literaturoper bestellt, also Musiktheater auf Basis eines etablierten Sprachkunstwerks mit historischer Dimension und zumindest dem Hauch eines Wiedererkennungswertes. Nun ist gerade dieses Genre in den letzten Jahren immer wieder energisch totgesagt worden. Was andererseits nicht verhindert hat, dass immer wieder neue Versuche das Licht der Welt erblicken, in der Regel allerdings – als Totgeburten. „Wolf unter Wölfen“ nach dem 1937 entstandenen zweiteiligen Roman von Hans Fallada dagegen ist ein echtes Lebenszeichen der Gattung Literaturoper, geradezu ein Ausrufezeichen!
Die Erfolgsgeschichte beginnt mit John von Düffels Libretto. Der Erfolgsautor, der in den letzten Jahren als Bearbeiter von etlichen Hauptwerken des Dramen-Kanons reüssierte, wobei er oft vorging wie ein James Last des Wortes, hat hier ein ausgesprochen kluges Libretto geschrieben. Er hat Falladas 1000 Seiten um den Ex-Soldaten Wolf Pagel und die Ex-Prostituierte Petra Ledig im Berlin des Hyperinflationsjahres 1923 nicht einfach gekürzt oder gestraft, sondern Stränge, Figuren und Motive entnommen und zu einer tragfähigen dramatischen Struktur zusammengeführt. Die gewaltige Konstellation ist zehn Figuren zusammengeschnurrt, aber das Geheimnis, der Weltentwurf bleibt erhalten. Dabei hat von Düffel sogar das Happy End entschärft und deutet stattdessen eine Art Endlosschleife an. Ein Garant für die Stringenz und Wirkungskraft des Librettos ist die Figur des Conférenciers zwischen den Zeiten, der Zeitkolorit zur Verfügung stellt, Schauplätze an- und erspielt und so vor allem hilft, Pseudorealismus zu vermeiden.
Sören Nils Eichberg stattet diese Figur mit einem sprechgesangsnahen Idiom aus, Swing ist drin, ein wenig Musical, ein wenig Weill und Eisler. Aber es lebt aus sich heraus. Wie die ganze Partitur für das kleine Orchester mit den einfach besetzten Bläsern, die wie auf dem Präsentierteller musizieren, obwohl man sie nicht sieht. Schon in der Ouvertüre löst sich avancierte Kammermusik aus Form gebender Cluster-Architektur, entsteht ein Spannungsverhältnis aus Klangstrahl und Klangfläche. Dieses trifft dann auf Paul Linckes Operetten-Idiom, auf Schleichshimmy, Schlager-, Marsch- und Volkston, sprich: auf Berlin im Jahre 1923. Die Übergänge vom Sprechen zum Singen werden immer wieder so kleinteilig wie überzeugend gestaltet. Experimentelle Klangballungen gehen immer wieder in Ohrwürmer über. Gleich zu Beginn hakt sich Petras und Wolfs in der Folge immer wiederkehrendes „Vorbei“ fest, der Chor der inhaftierten Frauen und der grandiose Pas de deux in der 15. Szene gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Dabei verstehen sich Eichbergs musikalische Entwürfe fühlbar als Spielvorlage, treten nie hinter das Theater zurück, lassen ihm aber dennoch jede Menge Gestaltumngsspielraum.
Der wiederum von Waltraud Lehner und Karsten Huschke eindrucksvoll genutzt wird. Huschke, in Koblenz eigentlich Studienleiter, sorgt für dramatische Spannung, deckt die Sänger aber nie zu. Im Gegenteil, er geht so sorgsam mit ihnen um, lässt so transparent musizieren, dass dem Ensemble großer Gestaltungsspielraum bleibt. Den nutzen Chor und Solisten mit hinreißendem Engagement und großer Genauigkeit. Anders gesagt: Die Übertitel sind in dieser Produktion eigentlich überflüssig.
Waltraud Lehner, die in Koblenz 2017 Eichbergs so ganz anders geartete Oper „Glare“ mit ihren dominanten Electro-Sounds herausragend inszeniert hat, erzählt die Geschichte ungeheuer spannend, mal als Psychothriller, mal als Historienstück, mal als Sozialdrama. Die Freiheiten, die Text und Musik ihr lassen, nutzt sie, um unaufdringlich Spiel-, Entstehungs- und Jetzt-Zeit ineinander zu blenden und so die Substanz aus Falladas Roman herauszuschälen – die Gier des Einzelnen nach Leben und Sieg. Dazu helfen die phantasievollen Kostüme von Dorothee Brodrück und Eva Martin genauso wie der variable Bühnenraum von Ulrich Frommhold. Dieser orientiert sich an der Fassade des Sanatoriums Hohenlychen, in dem Fallada 1938 die junge Maria Wintersteiner kennen und lieben lernte, in dem ab 1942 Menschenversuche an KZ-Häftlingen durchgeführt wurden – und das heute eine Art touristisches Nebenziel ist. Bei Frommhold besteht diese Fassade aus zwei Teilen, die aus- und gegeneinander gefahren werden können, so dass eine Vielzahl Innen- und Außenräume entstehen, die aber nie realistisch überformt werden. Vielmehr liegt Lehner spürbar daran, die Setzungen in Text und Musik zu schärfen, vor allem: die pointenstarken ironischen Einsprengsel zur Geltung zu bringen.
Diese sind ausschließlich den Nebenfiguren vorbehalten. Großartig spielt etwa Christoph Plessers einen Major a.D., der mit der Verwaltung eines Landgutes komplett überfordert ist, als Möchtegern-Heldenbariton, Mark Bowman-Hester, der einzige Gast in dieser Produktion, setzt als Ex-Oberleutnant Studmann mal maliziös, mal bescheiden krähende Distinktion entgegen und Junho Lee brilliert als Kunstschieber und Zuhälter von Zecke mit brillantesten hohen Tönen an den schwachsinnigsten Stellen. Auch Monika Mascus und Anne Catherine Wagner sorgen, jeweils in Doppelrollen, mit großer Präsenz und sicherem Timing immer wieder für Comic Reliefs in der vorherrschenden, besonders vom Chor bezwingend ausagierten Nachkriegs-Depression. Den Vogel aber schießt Theresa Dittmar als Eva Prackwitz ab. Sie spielt eine coole Salondame, die sich aber ständig in stratosphärischen Sopran-Höhen zu bewegen hat, was die Sopranistin sicher und erstaunlich wortverständlich tut. Und sie entbindet die Komik aus dieser Diskrepanz, die in ihren wahnwitzigen Koloraturen auf den dafür eigentlich kaum geeigneten Namen „Achim“ kulminiert. Was wieder übergeht in den fast unheimlich geschmeidigen, schon angesprochenen Pas de deux mit dem Conférencier. Der Schauspieler Marcel Hoffmann trägt nicht nur an dieser Stelle viel zum Gelingen des Abends bei.
Die beiden Protagonisten haben diese Distanzierungsmöglichkeiten nicht. Sie sind, lieben, leiden und verlieren. Ob ihnen jemals ein Sieg zuteilwerden kann, lässt die Oper offen. Waltraud Lehner stellt die hochkonzentriert spielenden, musikalisch so intensiv wie variantenreich gestaltenden Tobias Haaks und Danielle Rohr in einen Schutzraum, führt sie durch das Geschehen hindurch und trotzdem nebenher. Wir sind bei ihnen. Auch wenn sie sich verlieren. Denn das einzige, was hilft, ist Empathie. Behauptet diese großartige, vom außergewöhnlichen Engagement alller Beteiligten getragene Produktion am Theater Koblenz so, dass man sich dem kaum entziehen kann. Häuser, die über ähnliche Ressourcen wie dieses erstaunliche kleine Haus am Mittelrhein verfügen, sollten „Wolf unter Wölfen“ nachspielen. Unbedingt! Zumal das Werk ein Publikum begeistern kann, wie die Uraufführung beweist.