Foto: Szene mit Margarita Vilsone und Karina Repova © Andreas Etter
Text:Bernd Zegowitz, am 20. Januar 2024
Weinbergs Oper „Die Passagierin“ ist das Stück der Stunde. Nadja Loschkys Inszenierung betrachtet die Handlung aus Täter- und Opferperspektive. Es zeigt, dass es zu früh ist, einen Strich unter die Vergangenheit zu machen und nur noch nach vorn zu schauen.
In bayerischen Discotheken grölen AfD-Politiker mit erhobenem rechtem Arm nationalistische Parolen. Ein Düsseldorfer Zahnarzt lädt nach Potsdam ein, wo sich ein deutsches Gemisch Rechtsextremer von einem österreichischen Neurechten Pläne zur Massenvertreibung erläutern lässt. Ja, die Vergangenheit reicht weit in die Gegenwart hinein. Weinbergs „Passagierin“ kann da als Antidot wirken. „Ich verstehe diese Oper“ so der Komponist Dmitri Schostakowitsch, „als einen Hymne an den Menschen, eine Hymne an die internationale Solidarität der Menschen, die dem fürchterlichsten Übel auf der Welt, dem Faschismus, die Stirn boten.“
Wiederkehr der Vergangenheit
Zwei Frauen treffen sich Anfang der 1960er Jahre auf einem sehr komfortablen Passagierdampfer auf der Fahrt nach Brasilien. Sie erleben dort die Wiederkehr der Vergangenheit: Die eine, Lisa, war Aufseherin in einem Vernichtungslager, die andere, Marta, war dort als Gefangene. Lisa reist mit ihrem Mann Walter, einem deutschen Diplomaten, dem sie im Zuge der Fahrt ihre Vergangenheit enthüllt. Martas Liebesgeschichte mit dem ebenfalls internierten Tadeusz endete bereits im Lager mit dessen Ermordung. Und so wie Weinbergs Musik die Zeitebenen beständig verschmilzt, verwandelt sich das Schiff in den einstigen Ort des Grauens. Die Stimmen der Passagiere werden zum Gefangenenchor. Als zuletzt auf dem Dampfer der Walzer erklingt, den der Lagerkommandant vor den Häftlingen spielen ließ, werden die beiden Sphären ununterscheidbar.
Das Bühnenbild mit schemenhaften Schatten. Foto: Andreas Etter
Nadja Loschkys Produktion wurde im Jahr 2020 zuerst in Graz gezeigt. Diese Inszenierung verdoppelt die Figur der Lisa und bringt diese als stumme Rolle auf die Bühne. Sie ist eine alte Frau, die von den Geistern ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Dadurch holt Loschky die Gegenwart direkt ins Stück. Sie verbindet die zwei konkreten Zeitebenen, die 1940er und 1960er Jahre, mit einer dritten, nämlich unserer Zeit. Die Überfahrt nach Südamerika, immerhin hielten sich viele Altnazis dort mit neuer Identität versteckt, dient so mitnichten der Verarbeitung des Erlebten, sondern zeigt, dass es keine Flucht vor der Vergangenheit gibt.
Wahrheit und Täuschung
Während der Bühnenraum (Etienne Pluss) weder Schiff noch Lager ist, sondern ein eher abstrakter Raum mit weiß-grauen Wänden, kafkaesken Gängen und Türen, der durch wenige Requisiten konkreter gemacht werden kann, sprechen die Kostüme (Irina Spreckelmeyer) eine deutlichere Sprache. In der Farblosigkeit der Sepia-Fotografie bewegt sich die Lagerwelt der 40er Jahre, die Strickjacken-Tristesse der 60er vermittelt eine dumpfe Farbigkeit. Doch in der Wahrnehmung der Protagonistin finden Verschiebungen und Verrückungen statt. Dann verschwimmen die Figuren, die Kostüme und auch Opfer und Täter. Lisas Sicht drängt sich uns auf, mit ihren Rechtfertigungsstrategien muss sich der Zuschauer auseinandersetzen. Ihre Handlungen seien nur eine Reaktion auf das Verhalten der Lagerinsassen gewesen, meint sie. Täuschung ist das, suggeriert ein Zwischenvorhang auf der Bühne, der den vorderen Teil derselben von einem hinteren abtrennt, den die alte Lisa nie betritt.
Musik gegen das Vergessen
Erinnerung herrscht in Weinbergs Oper auf allen Ebenen der Zeit vor, beeinflusst psychologisch die Figuren und wird auch musikalisch evoziert. Ein Motiv aus mehreren aufsteigenden Terzsprüngen, das mit einer signalartigen Tonrepetition endet, mutet wie ein diffuses Gefühl einer aufsteigenden Erinnerung an. Es scheint von Anfang an die Realität der Vergangenheit heraufzubeschwören. Verwandelt und variiert taucht es immer wieder auf. Das Militärische eines Marsches wird von einem tänzerischen Dreivierteltakt aufgehoben und Walzerrhythmen bohren sich wie kreisende Gedanken ins Bewusstsein. Volkslieder werden grotesk verzerrt. Weinbergs Lehrer Schostakowitsch wird hörbar und doch entwickelt der Komponist eine ganz eigene Tonsprache. Hermann Bäumer und das Philharmonische Staatsorchester Mainz machen diese Sprache ungemein verständlich. In aller Brutalität und Härte, in aller unechten Süße, aber auch aller kristallinen Klarheit der Musik Martas.
Erinnerung im Klang
Margarita Vilsone singt diese Marta mit festem und kühlem Sopran, mit unerschütterlicher stimmlicher Standhaftigkeit, klarer Tongebung, aber zu wenig Wärme etwa im Duett mit ihrem Geliebten Tadeusz, den Brett Carter etwas eindimensional singt. Karina Repova ist die teils verunsicherte, teils dominant-sadistische Lisa, Florian Stern ein wunderbar kalt-dümmlich-verdrängender Walter. Die anrührendsten Momente aber haben die anderen Lagerinsassinnen, die immer wieder von ihren Wünschen und Sehnsüchten, aber auch Todesahnungen berichten. Julietta Aleksanyan singt das Volkslied der Russin Katja ganz vorn an der Rampe direkt ins Publikum. Ganz ohne Orchesterbegleitung, ganz eindringlich und echt singt sie. Bis aus Lautsprechern die Nummern der Häftlinge ertönen, die selektiert werden sollen.
Weinbergs Oper „Passagierin“ ist ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, absolut repertoiretauglich, besonders wenn es so einsichtig und anschlussfähig inszeniert wird wie von Nadja Loschky. Begleitet werden die sieben Aufführungen am Mainzer Staatstheater von einem Rahmenprogramm aus Lesungen, Nachgesprächen, Stadtrundgängen und einer Ausstellung. Das hätte der Autorin der Vorlage des Librettos, der KZ-Überlebenden Zofia Posmysz, die 2022 im Alter von 98 Jahren gestorben ist, gefallen.