Foto: "Small Town Boy" am Gorki Theater © Thomas Aurin
Text:Anne Fritsch, am 2. April 2020
Zwei Männer treten vor den semitransparenten Vorhang und sprechen über die vergangene Nacht. Beziehungsweise der eine (Thomas Wodianka) drängt den anderen (Aleksandar Radenković) dazu, darüber zu sprechen. Über die Anmache am Pissoir, die Geilheit, den Sex. Eine ablehnende Reaktion des Publikums wird vorausgesetzt, ist Teil des Textes. Es ist eine angestrengte Szene, mit der Falk Richter sein Projekt „Small Town Boy“ am Maxim Gorki Theater beginnen lässt, das 2014 Premiere hatte und nun für 24 Stunden im Stream gezeigt wird. Dann kommt dieser Moment, als Radenković seine Lederjacke öffnen will oder soll, um seine Achseln zu zeigen. Da klemmt der Reißverschluss, lässt sich nicht öffnen, als sträube auch er sich gegen diese zwangsvorgeführte Intimität. Radenković lacht, und auf einmal stellt sie sich ein, die Nähe zwischen Schauspieler und Publikum, die Spontaneität und die Spannung einer Live-Performance. In diesem Augenblick vergisst man beinahe, dass man nicht mit vielen im Theater, sondern allein auf dem Sofa sitzt.
Wo andere Romane oder Filme fürs Theater adaptieren, nahm Richter sich einen einzigen Song als Ausgangspunkt für sein Projekt: „Smalltown Boy“ von Bronski Beat aus dem Jahr 1984. Ein Song über die Flucht aus engen Verhältnissen, aus der Provinz in die Metropole, aus traditionellen Rollenbildern in neue Lebensentwürfe. „The love that you need will never be found at home“, heißt es da. Und: „Run away, turn away.“ Es ist, als wolle Richter 30 Jahre später noch einmal nachfragen, wie weit wir denn nun gekommen sind mit unserer Toleranz. Ausstatterin Katrin Hoffmann hat einen weißen Flokati auf die Bühne gelegt, auf dem es sich gut fläzen lässt. Darüber hängen Bilder von David Bowie, Annie Lennox und anderen an Wäscheleinen. Irgendwo steht ein improvisiertes Radio-Studio für diese musikalische Mix-Show.
2014 outete sich der Fußballer Thomas Hitzlsperger, sprach als erster prominenter Profispieler offen über seine Homosexualität. Richters Projekt war das Stück der Stunde. Nun aber, aus der zeitlichen und räumlichen Distanz betrachtet, scheint die lose Szenenfolge über weite Strecken eher unterkomplex. Der Abend gibt sich selbst thematische Überschriften wie „Intimität und Sprache“ oder „Was uns davon abhält zu sein, wer wir sind“ – und nicht nur deswegen fühlt man sich zeitweise wie in einem Volkshochschulkurs. Das Ganze wirkt wie ein Brainstorming zum Thema „Schwulsein heute“, eine zerfledderte Nummern-Revue. Es gibt wunderschöne Songs und berührende Szenen. Da ist die erste Liebe, dieses singende Mädchen in der Fußgängerzone, von dem Radenković jahrelang träumte, bis er realisierte, dass es Paddy Kelly von der Kelly Family war. Niels Bormann erzählt, warum er „ungeeignet ist für Zweier-Beziehungen“. Weil sich Frustrationen nämlich in einer Gruppe besser verteilen können.
Irgendwann kippt die Stimmung, aus den privaten Geschichten werden politische. Thomas Wodianka steigert sich gegen Ende in einen etwa 20-minütigen Hass-Monolog, der sich gegen alles und alle richtet, die Schwule diskriminieren. Vor allem Putin, „der Russe“, hat es ihm da angetan, aber auch Alexander Dobrindt, Erika Steinbach und Ilse Aigner. Was da alles aus ihm herausbricht, hat mit Sachlichkeit wenig zu tun. Aus Hass erwächst neuer Hass.
Zwischen „50 Shades of Grey“ und Analstöpseln handelt Richter mit seinem Ensemble das Leben mittelalter Hauptstädter ab, verfängt sich dabei aber immer wieder in Klischees. Am Ende steht, wie könnte es anders sein, die Ansprache an den alten, kranken Vater: „Du bist der Mann, von dem ich immer geliebt werden wollte.“ Nein, dieser Abend hat definitiv keine Angst vor Pathos, leider aber auch keine vor Plattheit.