Foto: Mehmet Yılmaz, Vidina Popov und Aysima Ergün in "Bühnenbeschimpfung" am Maxim Gorki in Berlin © Ute Langkafel MAIFOTO
Text:Barbara Behrendt, am 18. Dezember 2022
Der Applaus regnet nicht am Ende des Abends auf die vier Schauspieler:innen herab, sondern zu Beginn – und zwar vom Band, wie das schon in Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ der Fall war, dessen Frankfurter Uraufführung 1966 Theatergeschichte geschrieben hat: Vier Schauspieler stellen auf der Bühne alles in Frage, was das Theater ausmacht. Die israelische Erfolgsautorin Sivan Ben Yishai spielt nun unverkennbar auf Handke an, wenn sie ihr neues Stück „Bühnenbeschimpfung“ nennt. Der Untertitel „Liebe ich es nicht mehr oder liebe ich es zu sehr“ ist von Roland Barthes geklaut. Ein paar Sätze zuvor heißt es bei Barthes noch: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“ Titel und Untertitel, Handke und Barthes zusammengenommen zeigen: Yishai geht es ums Eingemachte, um die Institution Theater an sich, die mit Machtmissbrauch sowie festgefahrenen, steilen Hierarchien zu kämpfen hat – und um die Frage, wie dieser Betrieb überhaupt noch zu retten ist.
Zum Applaus vom Band verbeugt sich das Ensemble des Maxim Gorki Theaters in Berlin also in grotesk schrillen Kostümen Hunderte Male und persifliert alle Schauspielertypen auf den Bühnen dieser Welt: die, die sich mit gespielter Rührung ans Herz fasst – oder der, der seine Kollegin von der Rampe wegschubst. Allesamt Narzissten!
Dass sie sich selbst auf die Schippe nehmen können, zeigen Mehmet Yilmaz, Lindy Larsson, Vidina Popov und Aysima Ergün also schon in der ersten Szene. Und Selbstironie braucht es bei diesem Stück unbedingt – denn Sivan Ben Yishai geht hart mit den Schauspieler:innen ins Gericht: „Sie halten den Mund und ziehen die Vorstellung durch. Und erst spät nachts hinter verschlossenen Türen werden sie anfangen zu reden und zu lästern. Sie lästern und lästern und lästern …“
Aber eben nicht nur mit ihnen geht sie ins Gericht, sondern mit einer Gesellschaft, die in starren Strukturen feststeckt: „Aber was können wir schon tun, sagen sie. Meistens ist es unmöglich und das spürt der Schauspieler, die Autorin und die Vorgesetzte, der kleine Mann, der Philosoph und die Politikerin spüren es auch. Sie alle fühlen sich ohnmächtig.“ Aysima Ergün spricht diese Textstelle brav nach Yishais Vorlage – doch wie reagieren Schauspieler:innen auf die Provokation, als konformistische Sprechautomaten tituliert zu werden? Klar, sie rebellieren – und schreiben ihren eigenen Text.
Unscharfe Grenzen
Und so schreit sich Mehmet Yilmaz irgendwann mit eigenen Worten ziemlich lange auf den Stuhlreihen im Publikum stehend den Frust übers Schauspielerleben von der Brust: „Du musst immer wieder die schlechte Laune deiner Familie, deiner Freunde ertragen, weil du wieder nicht an Weihnachten da bist. Am Geburtstag. Du hast Vorstellung. Und danach kannst du nicht mehr spielen, weil du keine Stimme mehr hast. Weil dem Regisseur nichts Besseres eingefallen ist als zu sagen: Brüll doch mal deinen ganzen Monolog!“
Auch das ist natürlich inszeniert vom Regisseur Sebastian Nübling. Eine Brechung des Textes und der Diskursebene folgt auf die nächste – wo das Theater aufhört und die Realität anfängt, ist fließend. Die Vorwürfe des Mobbings und Machtmissbrauchs, die vor anderthalb Jahren gegen die Intendantin Shermin Langhoff an eben diesem Theater laut wurden, sind nun einmal real. „Ihr könnt total verstehen, warum genau dieser Diskurs nicht stattfindet, auf genau dieser Bühne“, heißt es dazu im Text. Eine „No-Go“-Area. Nübling wirft die Passage zum Lesen an die Wand. Ein Benennen und Nichtbenennen gleichzeitig.
Eine Drehung weiter richten sich die Bühnenkameras aufs Publikum. Zuschauende, so beschreibt es Yishai, die nicht moralischer oder politisch aktiver sind als die Menschen auf der Bühne. Und die sich schon zu Beginn der Vorstellung fragen, wann sie zu Ende sein wird: auch sie ein Teil der Institution Theater. Wieder grätschen Ensemble und Regie in den Text, lassen ihn vermeintlich vom Publikum selbst sprechen – bis diese Sprechenden auf die Bühne wechseln und sich als Mitglieder des Gorki-Jugendclubs entpuppen. Das wahre Publikum lässt sich später vom Ensemble willig nach Gender Pay Gaps, Gehalt, Psychotherapie und Theatererfahrung ausfragen.
Von Sivan Ben Yishais Text bleibt kaum die Hälfte übrig. Das ist schade, denn er zeigt klug und furios: Konformismus und Machtmissbrauch müssen in jeder Institution bekämpft werden, nicht nur in der moralischen Anstalt Theater – und vor allem in uns selbst. Sebastian Nübling inszeniert das als allzu grellen Kindergeburtstag aus überdrehtem Schauspielergejammer und Theaterbashing-Kabarett, dessen böse Spitzen ausschließlich Insider verstehen. Und irgendwann zerfasert die Kritik in richtungslosen Witzeleien. Trotzdem: Ein Stück und ein Abend, die derart unverblümt die eigene Zunft in die Mangel nehmen, hat es vermutlich seit Peter Handke nicht mehr gegeben. Es ist ein Anfang.