Foto: Jan Pröhl, Alexey Ekimov, Dennis Bodenbinder, Sven Seeburg, Philipp Noack (König Artus), Stefan Migge, Jens Winterstein, Floriane Kleinpaß © Birgit Hupfeld
Text:Martina Jacobi, am 30. April 2023
Die Zeit ist so ein verdrehtes Ding: Zukunft und Vergangenheit jagen einander. Ist doch relativ egal, wann was passiert, wenn sich die Taten der Menschen immer wiederholen. Gut, Böse – das sind eben konstruierte Kategorien. Genauso spielt sich das „Weltmärchen“ vom Zauberer Merlin und der Artus-Sage immer im „Hier und Jetzt“ ab. So beginnt das Stück im Essener Grillo-Theater noch vor verschlossenen Saaltüren: Jesus erscheint und vertreibt heidnische Götter, die Riesin Hanne, kurz vorm Gebären, und ihr Bruder, der Clown, suchen den verschwundenen Kindsvater, vielleicht versteckt er sich ja unter den Zuschauer:innen.
Lars-Ole Walburg bringt mit „Merlin oder Das wüste Land“ von Tankred Dorst seine erste Inszenierung ans Schauspiel Essen. Die Inszenierung ist eine wunderbare Hommage an Dorsts Originalfassung, deren Idee, angeregt von Regisseur Peter Sadek, für die ehemalige Fisschhalle in Hamburg als Aufführungsort entstanden ist. Mit der Inszenierung erfüllt sich das Ensemble zum Abschluss der Intendanz von Christian Tombeil einen Wunsch, in dem 4,5-Stünder stehen noch einmal (fast) alle Schauspieler:innen zusammen auf der Bühne und für diesen umfangreichen Stoff zieht das Schauspiel Essen alle Register.
Schließlich gebiert Hanne während des gesamten Saaleinlasses. Das zieht sich so lange hin, bis alle sitzen und Merlin auf die Welt gekommen ist. Währenddessen sammeln Clowns Spenden, Alimente für das vaterlose Kind, während im Hintergrund „Oh happy day“ läuft (Musik: Lars Wittershagen). Das alles geschieht vor verschlossenen Eisentoren mit der Aufschrift „MS Gral“. Auch wenn aus der ursprünglich von Dorst geplanten Produktion für die Hamburger Fischhalle nichts geworden ist, setzt Bühnen- und Kostümbildnerin Claudia Charlotte Burchard die Idee der Eisenkonstruktion „mit eisernen Treppen, Galerien, Umgängen und anderen möglichen Spielflächen“ (Tankred Dorst) so liebevoll um und nutzt auch die gerüstartige Galerie im Saal für Auftritte.
Nah an der Vorlage mit aktuellen Bezügen
Walburg inszeniert nah an der Vorlage (Dramaturgie: Carola Hannusch), in die er aktuelle Bezüge einbaut. Merlins Vater, der Teufel, erscheint und beauftragt ihn, die Menschen „zum Bösen zu befreien“. Merlin jedenfalls will doch lieber Demokratie, an einem runden Tisch ohne Hierarchie, und vertreibt den Teufel mit dem „Vater unser“. Die Tore öffnen sich den Gralsrittern, die wie Monty Pythons „Die Ritter der Kokosnuß“ entsprungen aussehen. Und so verhalten sie sich auch: Als das Schwert „Excalibur“ aus dem Stein gezogen werden soll, fallen Sätze wie „lass das mal den Vati machen“, „ich habe doch eine Metallallergie“ oder „das erkennen die Schotten nicht an“.
Ausgedehnt verläuft die Szene zwischen dem nervösen König Artus, der doch nur Gerechtigkeit will, und dem Schreiner, der ihm den „Runden Tisch“ bauen soll, so etwa wie der UNO-Konferenztisch könnte er aussehen, ohne oben und unten, wo alle gleich sind. So lange kann man darüber sprechen, wie Gerechtigkeit aussehen soll, am besten passt sie (in Tischform) auch durch die Tür und überall hin. Von der Idee her nicht schlecht, aber es ist ja immer die Umsetzung…Artus bittet dann auch die Ritter mit freier Platzwahl zum Tisch, nur auf diesem einen Stuhl würde er dann doch gerne selber sitzen.
Es gibt die eine Szene, in der allein zwei Frauen das Sagen haben, das wird auch so extra angekündigt. Bei diesem kurzen Hinweis auf wenig weibliche Präsenz in den Rollen bleibt es dann aber auch, bevor sich Königin Ginevra und das Fräulein von Astolat in Eifersucht um Sir Lancelot gegenseitig immer heftiger anschreien. Ginevra ist doch auch wieder nur eine tragische Frauenrolle, wegen der sich ein Krieg zwischen Lancelot und Artus entspinnt. Nicht zuletzt aber ist der Teufel weiblich besetzt, eine Rolle, die bis und mit Glitzer-Pop-Auftritt das Scheitern der Gerechtigkeit maßlos feiert.
Nach der ersten Pause werden die vordersten Sitzreihen backstage geführt und setzen sich auf die Drehbühne mitten ins Geschehen, während der Rest des Publikums im Saal freie Sitzwahl hat. Der kleinere Teil des Publikums auf der Bühne wird als oberer Teil der Klassengesellschaft mit den teureren Tickets präsentiert, während Goldkonfetti auf sie niederschwebt. Es gibt eben keine Gleichheit, während die Vergangenheit, die „Heldentaten“ der Väter, die Figuren praktisch zu noch größeren Ruhmestaten treiben und Parzifal immer noch nach diesem „Herr Gott“ sucht. All diese Irrwege der nach dem Gral suchenden Ritter stehen schließlich vor der Frage: Kann es Gerechtigkeit ohne Leid geben? Und der Gral ist am Ende so surreal, wie man ihn sich vorstellt – irgendwie groß, glänzend, prunkvoll, einfach „wow“ – hier als riesige, pompöse Discokugel.
Ironische Gesellschaftskritik
Einen bitteren, nötigen Beigeschmack haben die Videoprojektionen (Videografie: Konrad Kästner), die vielfach eingesetzt werden. Sie zeigen bildgewaltig Nazi-Aufmärsche, politische Konferenzen, Anschläge und Kriege und das funktioniert genauso wirkungsvoll wie die Ironie des Spiels. Walburgs Inszenierung geht dabei in die Liebe zum Detail; das dauert, bleibt aber spannend und absolut unterhaltsam. Die Charakterverstrickungen werden von hintertrieben bis verloren nachvollziehbar aufgedröselt und über allem steht eine ironische, unmissverständliche Gesellschaftskritik. Die Darsteller:innen bieten durchweg eine grandiose Leistung, vom nervösen König Artus (Philipp Noack) bis hin zu Sir Mordred (Trixi Strobel), König Artus‘ Sohn, der sich am Ende auf das Schwert „Excalibur“ und so in den Tod stürzt.
Nach der zweiten Pause sind alle wieder auf ihren Plätzen, auch das Publikum – aus dem Chaos der Wahrheitsfindung haben (fast) alle Ritter wieder zurückgefunden, entweder unzufrieden und immer noch auf der Suche, oder, ja, irgendwie durchgeknallt. Immer noch wollen sie endlich eine Antwort haben, doch der Chronist schreibt ja nur auf, was passiert und sagt: „Alles ist wahr, auch die Lügen.“ Jede:r kennt die Geschichte und lernt doch nicht daraus, der Tisch wird zum Hamsterrad und Artus, der doch nur Versöhnung wollte, versteckt sich unter einer Decke.
Ein hustender und röchelnder Papst verliest schließlich, nachdem er sich an den vorderen Bühnenrand geschleppt hat und den alten Clownstrick vollführt, bei dem er jede Menge Bälle aushustet, dass Ginevra ihr Betrug mit Lancelot vergeben wird – Gottes Wort in allen Ohren. Am Ende ist natürlich die „Sünden-Schlange“ daran Schuld, dass einer der Ritter doch sein Schwert hebt und alle wieder übereinander herfallen, jetzt anstatt in der Ritterrüstung in Anzügen, auch die Ritter sind im Hier und Jetzt angekommen. Dazu erklärt eine elektronische Stimme die Entstehung der Welt und der primitiven Menschengattung mit niedriger Intelligenz. Ist ihr Untergang Schicksal oder eben doch selbstverschuldet?