Womöglich hätten beide auch nur „WTF!“ geschrien, aber das muss man sich jetzt gar nicht vorstellen, weil es so konkret in Tübingen gar nicht zugeht. Zu sehen und zu hören ist vielmehr, was Beethoven und Hölderlin verbindet: nämlich dieser unbedingte, fast störrische Wille zu künstlerischem Ausdruck. Um ihn geht es an diesem Abend, und deshalb bleibt, was von Beethovens Musik und von Hölderlins Gedichten zu hören ist, auch nie unbearbeitet. Am Flügel beginnt Konstantin Dupelius mit Fetzen jener d-Moll-Akkordbrechungen, die im ersten Satz der neunten Sinfonie die Basis für den langsam entstehenden Klangkosmos bilden. Später wird man Takte aus dem Trauermarsch der „Eroica“ hören und aus dem Scherzo der Siebten. Hinzu kommen Momente aus den Klaviersonaten; musikalisch endet der Abend mit der Arietta aus der letzten Sonate op. 111.
Beethoven bleibt nicht alt. Er wird zu dem gemacht, der „WTF“ hätte schreiben können. Auf drei Leinwände projiziert Wilhelm Rinke Videos von Pflanzenteilen, die in Gläser gelegt und (vor allem mit Farbe) zu Kunstobjekten gemacht werden. Dupelius und Wilcken aktivieren den Computer, lassen die Elektronik auf die Klassik los, machen Beethovens klingende Stillleben laut und heutig; das Ergebnis ist eine Klangwelt, die zwar viele eingängige Pop-Momente hat, vor allem aber durch die Spuren bezaubert, die, beginnend mit freiem Gesang über den gebrochenen d-Moll-Akkorden der Neunten, der Geist gemeinsamen Improvisierens in ihnen hinterließ. Der Sänger greift zwischendurch zu E-Gitarre, Posaune und Drumset, macht Beethoven zu Beathoven. Motive geistern durch den Raum, nisten sich ein in den Gehörgängen. Man erlebt poetischen Zauber. Mit ihren Fingern und Stimmen bearbeiten die Musiker das Innere des Flügels. Im freien Gesang, einmal sogar im Rap, finden der Dichter und der Komponist ebenso zusammen wie in Briefen, die der Sänger anderen Korrespondenzen des Komponisten entnommen und bearbeitet hat.
Sie sprechen, ebenso wie die ausgewählten Gedichte, von dem Schmerz, den Kunst bereiten kann – wie weit die Bereitschaft eines Künstlers zur Selbstverletzung gehen kann, zeigt der Sänger sehr unmittelbar, indem er sich live tätowiert. Außerdem künden die Briefe von sehr viel Einsamkeit, und auf skurrile Weise passt das zum Corona-bedingten Setting auf der Bühne: Das Duo agiert weit weg von einem Publikum, das, weil das kleine Theater mit Abstand bestuhlt wurde, nur vierzehnköpfig anwesend ist, also in den Genuss einer ziemlich exklusiven Vorstellung kommt. Ja, man kann die thematische Verzahnung sogar noch weiterdenken – die Idee, ein Künstlerpaar zusammenzubringen, das zeitlebens nie zusammenfand, passt jedenfalls so ideal in unsere neue Abstands-Normalität, dass man unweigerlich meint, sie müsse unbedingt gerade erst entstanden sein. Das trifft zwar nicht zu, könnte aber immerhin die These bestätigen, dass Kunst immer viel weiter ist als jene, die sie gerade machen.