Foto: Begegnung von untoten Lebenden und toter Materie © Thilo Neubacher
Text:Manfred Jahnke, am 4. Mai 2019
Beim Publikumseinlass stehen die Spieler Anne Brüssau, Gildas Coustier und Sonia Franken schon direkt an der Rampe. Sie starren in den Zuschauerraum, halten sich dann die Hände vor die Augen, in immer neuen Variationen – wie Kinder, die, wenn sie sich die Augen zuhalten, glauben, nicht gesehen zu werden und verschwunden zu sein. In der Tat erforscht der junge Figurentheatermacher Jan Jedenak in seiner Produktion „Imprint (Versuche zur Abwesenheit)“, (womit bei ihm auch ein Verschwinden in der Anderswelt gemeint ist): Was geschieht, wenn ich nicht mehr hier im Präsenz bin, sondern auf mich herabschauen kann als ein Gewesener? Quasi im Imperfekt?
Dafür hat Jedenak lange Recherchen unternommen. Er hat sich mit Post-mortem-Fotografien, Totenmasken und Totenritualen beschäftigt. Alle drei Momente tauchen im Spiel auf: Die Spieler posen, tragen weiße Masken, die sie wieder abnehmen und prüfend einander reichen. Anklänge eines Lamentos, einer Totenklage strukturieren die Atmosphäre der Handlung. Mithilfe von sphärischen Klängen (Musik: Julian Siffert) und einer raffinierten Beleuchtungsregie, die mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten arbeitet und nie die ganze Bühne ausleuchtet (Licht: Marius Alsleben), wird die „Anderswelt“ als eine fremde greifbar. Nur ein einziges, multifunktional eingesetztes Mobiliarstück ist im szenischen Raum zu sehen, eine Art Truhe auf Rollen, die auch mal einen Sarkophag darstellen kann. Von den Spielern wird diese immer wieder neu positioniert.
In dieses merkwürdige, mit grellen Lichtblitzen markierte Zwischenreich dringen die „untoten“ Spieler ein, nachdem sie ihre Gesichter immer wieder in zwei große, mit Wasser gefüllte Glasgefäße eingetaucht haben. Es entstehen wieder und wieder Versuche, sich abwesend zu machen. In der anderen Welt treffen sie auf eine merkwürdige, mannshohe Puppe (Puppenbau: Janusz Debinski), deren Gesicht ein hohles Loch ist. Die drei Darsteller agieren mit großer Selbstverständlichkeit: Das „Andere“ macht keine Angst, sondern wird zu einem (wissenschaftlichen) Experiment. Kurz, wie diese Begegnung zwischen untoten Lebenden und toter Materie gestaltet wird, gehört zu den stärksten Momenten der Inszenierung, die sich am Unsagbaren abzuarbeiten versucht. In der Tat lassen sich die Bilder vom Betrachter kaum beschreiben: Denn sie wirken unmittelbar, entwickeln eine starke Emotion, die sich gleich wieder in der nächsten Situation auflöst und neu konstituiert. Am Ende wird das Publikum durch einen grellen Lichtblitz geblendet und die drei stehen wie am Anfang wieder direkt an der Rampe: Sie sind aus ihrer Abwesenheit wieder im Hier und Jetzt.
Auf diese Reise in die Anderswelt werden die Suchenden zu Performern, die ihre Stärken ausspielen können. Anne Brüssau gelingen sehr berührende Momente dabei, Sonia Franken prägt ihre Figur durch tänzerische Momente und Gildas Coustier entwickelt in seiner Gesichtmimik maskenhafte Züge. Das Unsagbare in einer ausgefeilten Bildersprache darzustellen, das ist Jan Jedenak hinreißend gelungen. Eine emotionale Reise in die „Anderswelt“, die das Publikum mitzieht.