Foto: Musik-Theater-Duo im Wortsinn: Der Contratenor Kai Wessel und die Schlagzeugerin Yuka Otha © Hans-Jörg Michel
Text:Andreas Falentin, am 27. September 2018
Kagels frühes antiimperialistisches, europakritisches Stück ist alt geworden, wie die Kölner Inszenierung von Valentin Schwarz zeigt.
Mauricio Kagels „Mare Nostrum“ wurde vor 43 Jahren in Berlin uraufgeführt, zeitlich eigentlich ein Wimpernschlag in der Operngeschichte. Dennoch hat der Zahn der Zeit an diesem Werk offenkundig bereits seine unerbittliche Tätigkeit aufgenommen.
Dabei klingt die Musik für sich genommen frisch und originell – und wird von dem Countertenor Kai Wessel, dem Bariton Miljenko Turk und sechs Musikern (Cello, Oboe, Flöte, Gitarre, Harfe, Schlagzeug) einfach hinreißend umgesetzt, zumal alle Beteiligten – und besonders die beiden Sänger – nebenbei diversen, oft nicht einfach zu bedienenden Schlag- und Zupfwerken Töne zu entlocken haben. Für die Klangsinnlichkeit, die kammermusikalisch transparente Faktur, die flirrende Lebendigkeit ist Arnaud Arbet der denkbar beste Anwalt.
Bereits die musikalische Dramaturgie aber hat ein wenig Staub angesetzt. In schlichter Reihenschaltung bewegt sich die Musik entlang der Mittelmeerküste, von Portugal bis in den arabischen Sprachraum, dabei Volksmusikalisches und archaische musikhistorische Elemente der jeweiligen Landeskultur zitierend, was am Ende aufgelöst wird in einer Parodie auf Orient-Versessenheit mit und gegen Mozarts „alla turca“ und „Entführung aus dem Serail“.
Ein Mann aus Amazonien gerät, vielleicht schiffbrüchig, an die Mittelmeerküste, wo das postapokalyptische Zeitalter an- oder ausgebrochen ist. Er trifft auf einen offensichtlich verwirrten Mann, in dem immer wieder verschüttete Kultur- und Zivilisationsreste instinktiv hochbrodeln. Diesem erzählt der Amazonier, wie sein Volk einst die Europäer entlang dieser Küste „befriedet“ habe.
Kagel war es hier durchaus um Imperialismuskritik zu tun, vor allem aber darum, das Selbstverständnis der Europäer zu erschüttern, die sich ja, damals wie heute, als Fundament und Mittelpunkt der Gesellschaft auf diesem Planeten begreifen. Außerdem geht es, und das ist vielleicht der wirklich interessante Aspekt des Stückes, auf allen Ebenen, sozial wie politisch, theatralisch wie ästhetisch, um Gleichgewichte und ihre Labilität.
Drei Spielebenen lassen sich in „Mare Nostrum“ ausmachen. Es geht um den Prozess des Erzählens an sich, um das Erzählte und um die Beziehung zwischen Erzähler und Zuhörer. Der Regisseur Valentin Schwarz nimmt die erste Komponente aus dem Theaterspiel, indem er sie vom Band zuspielen lässt, wohl auch zur Erleichterung von Miljenko Turk, der sich dieser Aufgabe sonor, aber nicht affektiert unterzieht. Die Erzähltexte erscheinen sprachspielerisch verzerrt, von Kagel wohl gemeint als einsetzender Vermischungsprozess der Nationalkulturen. Beim heutigen Hörer kommt das allerdings eher als wohlfeile Witzigkeit an. Großer Nachteil der Zuspielung vom Band ist, dass der irgendwie indianisch bemalten und im Science-Fiction-Fantasy-Outfit daherkommenden Erobererfigur so die Haltung entzogen wird und er mit dieser nicht spielen kann. So dass etwa die große Leerstelle der Stückdramaturgie, der Zusammenhang zwischen der „Befriedung“ und der offensichtlichen Zerstörung der Mittelmeerländer in dieser Inszenierung weiträumig umfahren wird. Und die große Erzählung des Amazoniers uns nicht zu fesseln vermag.
So entsteht – Beliebigkeit. Die Annäherung, die Beziehung zwischen den beiden formidablen Sängern gestaltet Schwarz kleinteilig und subtil. Immer wieder lässt er Zivilisationsideen hochschießen, am raumgreifendsten einen antiken Torso mit Damenbrüsten und Herrenschenkeln. Dem Europäer sind zwei Frauen beigegeben. So entsteht eine kleine gesellschaftliche Zelle, die der Amazonier erkunden möchte, woran er aber letztlich scheitert; Der Europäer, jetzt ein Christus mit Flügeln aus Luftpolsterfolie, entweicht ins Nichts, wie die Substanz von „Mare Nostrum“. Das Stück bleibt uns fern, ungefähr, unverfänglich, weit weg von unserer Zeit.