Als es wieder angeht, ist Medea da. Fünf Medeas. Demis Volpi nähert sich der Figur über Gesang, Tanz und Spiel. Das Ergebnis ist das Gegenteil jener Überlebensgröße, die man seit der Interpretation von Maria Callas mit dieser Rolle verbindet. Volpi zeigt fünf Körper als Ausdruck einer Seele, entbindet den Menschen aus der Kunstfigur. Beeindruckend ist, wie der Regisseur und Choreograph hier Sängerinnen, Schauspielerin, Tänzerin und Tänzer zu einer Einheit zusammenführt und gleichzeitig stetig und höchst differenziert aufspaltet in Wut und Hass, Angst und Liebe, Orientierungslosigkeit und Fürsorge, Hilflosigkeit und Stockstarre.Mit tanzenden Sängerinnen und sprechenden Tänzern. Und alle Interaktionen wahren eine Eleganz, die schwer herzustellen ist, ohne die Cherubinis Musik aber vermutlich nicht zu haben ist. Naturgemäß trägt dabei die Sopranistin die Hauptlast. Die Klarheit, mit der Pauliina Linnosaari die Gesangslinie formt, begeistert. Wenige stumpfe Piani im unteren Register fallen dabei nicht ins Gewicht. Die musikalische Linie wird zum Hauptausdrucksmittel auf der Bühne, die Regie gibt ihr Raum, die gesangliche Expressivität ordnet sich ihr unter. Und wir fühlen mit. Judith Braun verkörpert, mit der Musik der Amme Neris, die hier der Medea zugeschlagen ist, die versöhnliche Seite, bleibt weich in der Tongebung, macht ihre große Arie, in der die fünf sich lose aneinanderhängend durch den Raum bewegen, zu einer Oase des entspannten Beieinanderseins. Aber immer, wenn die Wogen in Medea sich zu glätten scheinen, kommt Jason, kommt Angelos Samartzis mit grell aufloderndem, fast unangenehm gesundem Tenor, ein aufschreiendes, blendendes Licht in der so sehr ersehnten Dunkelheit.
Den Tod der Dircé durch Medeas Magie zeigt Volpi auf offener Bühne, Den Mord an ihren Söhnen zögert er hinaus. Der ereignet sich erst am Ende von Xenakis „Medea Senecae“. Der Herrenchor stampft archaisch auf in lateinischer Originalsprache, die sieben Instrumente verbinden ein mathematisch anmutendes, musikalisches Fundament mit wild-sinnlichen Klangzacken. Es werden Steine gegeneinander geschlagen. Der junge Nathan Blair koordiniert diese faszinierenden Klänge zwischen den Regalwänden, die sich auf Bühnenbreite zusammengeschoben haben. Nach dem formidablen Stefan Meseguer Alves hat jetzt auch Isabella Taufkirch ihr Medea-Tanz-Solo, er die in sich gefangene Wut, sie die Befreiung durch Tat, während die Sängerinnen stumpf in der Ecke sitzen. Die Kinder spielen derweil Helden, spielen Astronaut, dann verstecken sie sich, wie schon vorher oft, in den Regalen. Und werden immer gefunden. Bis sin die Kiste steigen, die scheinbar unmotiviert an der Rampe steht. Christiane Motter, die fünfte Medea, die Cherubinis Sprechpassagen angeführt hatte, die immer wieder mit eleganten Bewegungen die Medea-Gruppe gesteuert, zusammengehalten hatte, schließt die Kiste ab und wirft den Schlüssel weg. Es wird zaghaft von unten geklopft. Zerquältes Lächeln. Aus.
Leider nicht. Der große Monolog aus Heiner Müllers „Medeamaterial“ ist ein fantastischer Theatertext und Christiane Motter spricht und spielt ihn beseelt, auch wenn angemerkt werden muss, dass Demis Volpi mit Klängen und Bewegungen, zumindest an diesem Abend, wesentlich differenzierter umzugehen vermag als mit Texten. Das Hauptproblem ist ein anderes. Alles, was uns dieser Text, wenn auch in zugespitzter Form, mitzuteilen hat, haben wir an diesem Abend schon erlebt, durch eine feinsinnige, klare Inszenierung, durch großartige, großartig interpretierte Musik, durch fantastische Sänger, Tänzer, Schauspieler und musikalische Kollektive. Jetzt wird dies alles noch einmal Wort, wie die Deutung zum Gleichnis, wie eine nachgeschobene Einführung, die die Geschichte zusammenfasst. So wird dieser, nicht nur in der Zusammenstellung der gespielten Werke, innovative Abend ausgerechnet am Ende konventionell. Bleibt aber in hohem Maße erlebenswert.