Mit William Kentridge (62) hat Festspielintendant Markus Hinterhäuser genau den Künstler für die szenische Umsetzung eingeladen, der diesem Schlüsselwerk der Moderne des 20. Jahrhunderts eine Dimension hinzufügt, die nicht nur in der bloßen Illustration verharrt (was es in Salzburg bei der Begegnung des Malers Daniel Richter mit Bergs Lulu auch schon gab), sondern vom speziellen Blick des renommierten Grafikers und Videokünstlers profitiert. Der Südafrikaner hat auch seine Affinität zur Oper schon bewiesen. Die flankierenden Ausstellungen im Ruppertinum, gleich neben dem „Haus für Mozart“, und oben auf dem Mönchsberg im Museum für moderne Kunst dokumentieren das eindrucksvoll. U.a. mit künstlerischen Arbeiten zu seinen Inszenierungen der „Nase“ von Schostakowistsch oder Mozarts „Zauberflöte“.
Im Ruppertinum ist auch ein Modell des „Wozzeck“-Universums zu sehen, das die Bühne des Hauses für Mozart komplett ausfüllt. Als ein magischer und zugleich praktikabel bespielbarer Raum und als Projektionsfläche für die Bilder und Filme (oder filmischen Bilder) mit denen Kentridge diese Welt mit einem ganz eigenen, optisch suggestiven Rhythmus überflutet. Zwischen allem möglichen exzessiv angesammeltem Gerümpel und Stühlen gibt es einen Steg aus Brettern und halbe Treppen ins Nirgendwo. Dazwischen unterschiedlich große Spielflächen und einen geheimnisvollen Schrank, in dem der Doktor mit Wozzeck seine medizinischen Experimente durchführt, aus dem dann aber auch eine Kapelle entsteigt.
Statt den Hauptmann zu rasieren, gibt es einen Filmprojektor, den Wozzeck bedient, um animierte Zeichnungen von Kentridge über eine Leinwand flimmern zu lassen. Inklusive Porträts von Wilhelm II. Der Sohn von Marie und Franz ist hier eine von Sanitätern geführte Handpuppe. Ein abenteuerlich konstruiertes Pferd hat seinen Auftritt. Düstere Kasernenräume und Explosionen flackern auf. Angsterfüllte Gesichter zu den Verwundeten, die wie von Dix erfunden über die Bühne humpeln. Man sieht Waffen und verkohlte Wälder. Dass in dieser Welt auch individuell erniedrigt, betrogen und gemordet wird, das Große und Ganze dem Einzelnen und Privaten kaum eine Chance lässt, scheint unausweichlich.
Was man immer bei diesem genialen Ausnahmewerk hören kann, wenn man es will, dass nämlich bei der 1925 uraufgeführten Oper des Kriegsteilnehmers Alban Berg genau die Katastrophe des Weltkrieges nachhallt, wenn er die Geschichte von Büchner Woyzeck vertont, sieht man diesmal auch. Nur leicht durch die Kunst des Zeichners verfremdet, in den bewegten Bildern und Skizzen Kentridges von den Schlachtfeldern. Oder wenn einmal eine Generalstabskarte über die Szenerie projiziert wird. In diesem unglaublich opulenten Alptraum-Universum (Bühne: Sabine Theunissen, Kostüme: Greta Goiris, Video Design: Chatherine Meyburgh, Licht: Urs Schönebaum – man muss die alle nennen!) schafft erst eine raffinierte Beleuchtung die Räume für die Sänger. Und das funktioniert durchweg verblüffend gut. Für die Wirtshausszene mit einem Lichtwechsel-Coup, der das Rumpelkammerchaos von Jetzt auf Gleich in ein Wimmelbild mit drüberprojizierten, übergroß verdoppelten Menschen verwandelt, das an Bruegel erinnert. So kann man sich in diesem düsteren Universum als Zuschauer verlieren und ist doch immer bei Wozzeck und seinem Grundgefühl der Überforderung durch eine Welt, der er am Ende entflieht.
Matthias Goerne ist (neben Christian Gerhaher) der Wozzeck-Interpret von heute schlechthin. Profund und etwas kehlig, wohltimbriert und liederfahren genau in der Artikulation. Leidend an der Welt, dabei nicht wehleidig, wenngleich nicht wirklich gefährlich. Insgesamt jedoch: atemberaubend. Das gesamte Ensemble ist handverlesen und auf Festspielniveau. Besonders die leidenschaftliche Marie von Asmik Gregorian und der grandiose Gerhard Siegel als ein Hauptmann im Bismarcklook. Aber auch Jens Larsens Doktor, Mauro Peters Andres, John Daszaks Tambourmajor, Frances Pappas Margret oder der Narr von Heinz Göhring – sie alle haben darstellerisches und vokales Festspielniveau!
Am Pult der Wiener Philharmoniker belegt Vladimir Jurowski zudem die hochprofessionelle Vielseitigkeit des Spitzenorchesters. Die Präzision und Leuchtkraft der Musik werden zum Verstärker, doch auch zum emotionalen Wegweiser in diesem Sturm der Bilder und Sog der Assoziationen. Dem man nicht in jedem Detail folgen kann und muss, bei dem man aber immer ganz dabei ist. Und plötzlich ist Marie tot und die Kinderstimme beim traurig verlorenen Hopp hopp ….
Dieser „Wozzeck“ ist in jeder Hinsicht als ambitioniertes Gesamtkunstwerk die überzeugendsten Opernproduktion des laufenden Festspieljahrgangs!