Foto: Hoch der Schal, die Borussia soll leben! Szene aus dem Dortmunder Fußball-Oratorium "Fangesänge". © thomas m. jauk
Text:Andreas Falentin, am 16. April 2012
„Mim Fußball isses wie mim Fleisch. Entweder du isst es oder du lässt es bleiben.“ Diese über Video zugespielte Aussage eines Metzgers ist so treffsicher wie der ganze Abend, eine differenzierte Beschreibung eines sozialen Phänomens in der ungewöhnlichen Form als „Fußballoratorium“.
Die Bühne ist eine Stehplatzkurve, bevölkert vom Opernchor, der mit dem 51-köpfigen, eigens zusammengestellten Chor der Fußballfreunde auf breiter Front ergänzt wurde. Alle tragen natürlich Schwarz-Gelb, zumal am Tag des Sieges über Schalke 04, mit dem die Vorentscheidung über die diesjährige deutsche Fußballmeisterschaft gefallen sein dürfte. Ein Spiel dauert 90 Minuten, und am Ende gewinnt immer Borussia Dortmund; zuletzt knapp, aber verdient. Dazwischen wird das Thema durchgehechelt von der Kommerzialisierung des Sports bis zur Trainerentlassung, von Stan Libuda bis Diego Maradonna, von der Championsleague bis zur Stadionkatastrophe, von Hartz 4 bis zur Söldnermillion. Drei Schauspieler spielen verschiedene Rollen, Chormitglieder übernehmen Soli. Autor Jörg Menke-Peitzmeyer und Regisseur Marcelo Diaz finden einen gangbaren Weg zwischen gewagtem Pathos und sauberer ironischer Distanzierung. Dabei leugnen sie weder die Aggressionspotenziale der Sport-Business-Sozialmaschinerie „Fussball“ noch die oft berührende, öfter beängstigende Nähe zu sakralen Ritualen.
Hauptsächlich aber wird gesungen an diesem Abend irgendwo zwischen Chorfest, sozialkritischem Jugendstück, antiker Tragödie und Karnevalsjux, schön gesungen: Hymnen und Schmählieder, manchmal etwas schräg, aber beseelt von der Leidenschaft des Gebens. Da prickelt schon mal die Gänsehaut auf dem Oberschenkel. Wenn sich das FIFA-Monster Joseph Blatter von einem Knabensopran im Lionel-Messi-Trikot Gounods „Rondo vom Goldenen Kalb“ anhören muss, bricht das nicht opernaffine Publikum in spontane Begeisterung aus. Wenn an einem Songende 80 Kehlen entschlossen „Olé“ brüllen, fühlt man sich irgendwie erhoben – und konkret bedroht.
Der Dortmunder Oper ist mit „Fangesänge“ eine große Öffnung gelungen. Nicht nur ist das Haus voll, nicht nur markiert die Produktion seit längerem die erste gemeinsame Arbeit von Schauspiel, Oper und Jugendtheater, es wird vor allem das Publikum anders und direkt angesprochen. Da tragen nicht nur elegant gekleidete Pensionistinnen stolz den schwarz-gelben Schal. Da tummeln sich auch Fans vom _FV Östrich 55_ (nahe Iserlohn) oder der gerade ins Bodenlose fallenden Alemannia Aachen. Selbst ein komplett weiß-blau ausstaffierter Schalke-Fan ist da und wird belacht und beklatscht. familia una sumus. Und am Ende singen sie sahnig schön „You’ll never walk alone“. Man möchte ihnen glauben und die Welt umarmen. Zumindest fühlt sich selbst ein gebürtiger Hamburger und Anhänger der ehedem – vor 30 Jahren – besten Mannschaft Europas warmherzig über den aktuell 14. Platz hinweggetröstet und ist gar nicht neidisch auf das melancholisch-eruptive schwarz-gelbe Glück.