Wer meint, dass Kassel sich zum Musiktheater-Museum entwickle, liegt allerdings falsch. Die „Antigona“-Produktion ist zugleich eine Reverenz des Staatstheaters an die documenta 14, die am 10. Juni eröffnet wird. Das dokumentiert sich in der Verpflichtung der aus Polen stammenden, in London lebenden Künstlerin Goshka Macuga, Arnold-Bode-Preisträgerin 2011 und Teilnehmerin der documenta 13. Macuga, zuständig für das Bühnenbilddesign und die gesamte visuelle Konzeption, hat die „Antigona“ in eine Science-Fiction-Welt gestellt, angesiedelt zwischen „Star Wars“ und „Starlight Express“, kalt, unbunt, mit projizierten Galaxien und krukeligen Kometen, fernen Planeten und ab und zu unserer lieben blauen Mutter Erde.
Passend zu diesem Konzept hat der Londoner Modedesigner Gareth Pugh mit verspielter, ausschweifender Fantasie futuristische Kostüme entworfen, gern mit geometrisch-eckigen Formen, vorwiegend in dunkelgrauen bis schwarzen Tönen, im Roboter-Look. Vor derart gekleideten Figuren weicht man als Zuschauer unwillkürlich zurück, hat Respekt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Schweizer Regisseur Stephan Müller ihnen maschinell-eckige Bewegungsabläufe verordnet hat. Das verstärkt den Roboter-Eindruck erheblich. Zumal einige Protagonisten auch nur selten ihre Füße bewegen, sondern sich auf Segways leise surrend umkreisen und von diversen Hubpodien hinauf und herunter gefahren werden. Was am Schluss des zweiten Aktes zu einem ziemlich verwirrenden Auf und Ab führte: Warum wer gerade oben oder gerade unten war, wollte sich nicht erschließen.
Optisch hat also die Kasseler Bühne eine Menge zu bieten, keine Frage. Um aber das futuristische Konzept mit der antiken Tragödie des Sophokles in Einklang zu bringen, die dem Libretto von Coltellini zugrundeliegt, sind schon mehrere Dramaturgenseiten im Programmheft nötig. Da heißt es etwa in der Inhaltsbeschreibung des dritten Aktes von den Thebanern: „Vom Jupiter her zieht Sturm auf. Starke Turbulenzen erfassen ihr Raumschiff. Sie verlieren die Kontrolle: Der Sturm treibt sie unweigerlich voran in Richtung Zukunft. … Die Menschheit pflegt diesen Sturm ,Fortschritt‘ zu nennen.“
Das kommt im Textbuch von Coltellini – der übrigens für Mozart das Libretto für „La finta giardiniera“ geschrieben hat – nicht vor. Selbstverständlich darf ein Regisseur interpretierend über die Geschichte hinausgehen, niemand verlangt von ihm, die Handlung naiv nachzuerzählen. Zumal schon der Librettist, den Forderungen des Genres entsprechend, der antiken Tragödie durch ein lieto fine die Tragik genommen hat: Creonte sieht ein, dass er in der Bestrafung der Antigona zu weit gegangen ist, hebt das Todesurteil auf und zeigt – Friede, Freude, Eierkuchen – im Schlussensemble eine glückliche Familie. Das konterkariert Müller durch das Herabsinken einer bühnenbreiten dunklen Wolke, die sich bedrohlich auf die handelnden Personen legt. Doch ob es sinnstiftend ist, die gesamte Handlung in unendliche Welten zu verlegen, Lichtjahre von der Erde entfernt, bleibt fraglich. Und wenn die Science-Fiction-Protagonisten einerseits wie Maschinen agieren, andererseits aber in ihren Arien sehr menschlich all ihre Affekte ausbreiten, ist der Kontrast groß.
Wenigstens mit der Musik befinden wir uns nicht in der Zukunft, sondern im 18. Jahrhundert. Zarin Katharina II. hatte Tommaso Traetta, der mit der neapolitanischen Operntradition eng verbunden war, 1768 als Hofkapellmeister nach St. Petersburg geholt. In seinen Opern finden sich Elemente der barocken opera seria, allerdings nicht mehr so strikt gehandhabt wie etwa bei Händel. Die Da-capo-Arie wird aufgebrochen, sie kann in ein Ensemble münden oder von Chor-Einschüben unterbrochen werden. Überhaupt ist die Chorpartie in dieser Oper gewichtig. Und manchmal ist tatsächlich schon Mozart zu ahnen, ein „menschlicher“ Ton in der Melodik im Kontrast zu den bisweilen eher instrumentalen Koloraturen des barocken Gesangs.
Mit Elizabeth Bailey ist die Titelpartie der Antigona trefflich besetzt: ein heller, koloraturenfreudiger, ausdrucksstarker Sopran, dessen Stimmkraft nur dann nicht ganz ausreicht, wenn der Regisseur die Sängerin im hinteren Bühnendrittel agieren lässt. Ihre Klagearie „Ombra cara amorosa“ gehörte zu den ergreifendsten Momenten des Premierenabends. Etwas dunkler timbriert, hier und da leicht kehlig singt die Sopranistin Maren Engelhardt die Ismene. Die Kombination von Herrscherattitüde und Stimmpräsenz passt beim kernig grundierten Tenor Bassem Alkhouri (Creonte) perfekt. Sein Tenor-Kollege Musa Nkuna (Adrasto) flüchtete sich nur ganz selten aus Sicherheitsgründen ins Falsett. Die Alt-Partie des Emone (bei Sophokles: Haimon) wurde bei der Petersburger Uraufführung von einem Kastraten gesungen. In Kassel war sie der jungen kanadischen Mezzosopranistin Marta Herman anvertraut, die lediglich in ihrer Auftrittsarie mit einigen besonders tiefen Tönen nicht ganz überzeugen konnte, aber ansonsten mit großer vokaler Beweglichkeit und markantem Timbre bezauberte.
Bei dem von Marco Zeiser Celesti gründlich vorbereiteten Chor hätte sich man für diese Stilepoche einen schlankeren Ton und etwas weniger Vibrato gewünscht. Dafür zeigte sich das Orchester historisch informiert: mit sehr leichter, lockerer Spielweise, mit feinen Bläsersoli, auch wenn in Halubeks bisweilen sehr straffen Tempi die Hornisten ein Stück aus der Kurve flogen. Sehr ungewöhnlich ist die Begleitung von einigen Secco-Rezitativen durch ein solistisches Violoncello, das neben dem Basston auch die gebrochenen Akkorde zu spielen hat. Inwieweit eine solche Praxis historisch belegt ist, bedarf der Nachprüfung – jedenfalls war hier bei aller Virtuosität der Cellist an einigen Stellen ein Stück zu spät.
Spannend ist diese „Antigona“ aber auf jeden Fall, wie viele Lichtjahre auch immer vom antiken Theben entfernt. Dafür liegt sie deutlich dichter an Mozart und ist so bewegend, dass das Premierenpublikum ausführlich applaudierte.