Foto: "Lengen na Leev" nach Eugene O'Neills "Ein Mond für die Beladenen" als Plattdeutsche Erstaufführung am Hamburger Ohnsorg-Theater. Uwe Friedrichsen und Sandra Keck © Jutta Schwöbel
Text:Jens Fischer, am 14. Oktober 2013
„Das ernste Stück“: So bezeichnet Christian Seeler, Intendant des Ohnsorg-Theaters, das Genre und die Spielplanposition des Schauspiels „Lengen na Leev“. Zwischen Schwänken, Komödien, Boulevard und „Rock op Platt“-Revue ist diese niederdeutsche Erstaufführung von Eugene O’Neills „Mond für die Beladenen“ etwas ganz Besonderes. Mit derart naturalistischem Eifer wagt sich kein Stadttheater mehr an das vage poetische, munter schwermütige Sezieren menschlicher Qualen.
Prima funktioniert sofort der Transfer des Seelendramas aus einem ostamerikanischen Farmerhaus in einen Bauernhof, der in den 1920er Jahren einen schwer zu bewirtschaftenden Geestrücken der norddeutschen Tiefebene ziert. Gesnackt wird Platt (kongeniale Übersetzung: Hartmut Cyriacks / Peter Nissen) – Mannsbilder flüchten nicht mehr zu den Huren am Broadway, sondern besuchen die „Deerns op de Reeperbahn“. Alle trinken Kööm statt Whiskey. Besapen, besüppt, duun worrn – sind so schöne Formulierungen für die Folgen. Chronisch umnebelt, aber nie trunken spielend, dafür ständig herzig drauflos sabbelnd – so laden die Darsteller die Konturen ihrer Charaktere schnell lebensprall auf. Aber O’Neill gibt ihnen nix zu tun. Mal Wäsche waschen, mal einen „Dukatenschieter“ verprügeln, ansonsten: Dialoge im Sitzen darbieten. Wie es hinter den Kulissen der wortreich propagierten Lebenslügen aussieht? Der Hof der Homanns ist eine ausgebrannte Ruine, verkantet in leicht expressionistische Schräglage – so die bühnenarchitektonische Entsprechung der innerlich verwüsteten bis abgestorbenen, verkohlten Seelen. Alkohol und immer mehr Alkohol wird zum Katalysator der Wahrheit. Bei Uwe Friedrichsen ist allerdings von Beginn an alles klar. Er legt das bäuerliche Urgestein seiner Rolle nicht wie O’Neill als brutalen Säufer und rüden Verbalpolterer an, der gegen seine Natur anbrüllt, sondern von vornherein als nölig sympathischen Pfiffikus. Er spricht wie er geht: schlurfend. Nicht aus Geldgeilheit, sondern als verschämt fürsorglicher Vater intrigiert er für die Zukunft seines krüppeligen Stücks Land. Die gut konzentrierte Spielfassung aber erzählt die Tragödie der Tochter. Eine Kerlin ist sie, patent, emanzipiert, „stolz und stark“ mit Hamburgisch spitzem „st“. Sich selbst stilisiert diese Johanna zum männerverbrauchenden Flittchen, ist aber eine „unschüllige Jümfer“ und meint, eine „dicke, groffe, hässliche Koh“ zu sein. Da kommt es gerade recht, dass ihr der Großgrundbesitzersohn Jacob „de schöönste Bost vun de ganze Welt“ bescheinigt, auch mal anfasst, aber Sex geht nicht. Nur das Ausleben von Vergewaltigungsfantasien. Abbruch der Entjungferung. Im Mondliebeslicht der Problembeladenen führt Jacob weinerlich aus, ein Trauma wegtrinken, sich aus der Wirklichkeit heraussaufen, den Selbstekel betäuben zu müssen. Er hat seine heilige Mama mal enttäuscht, woraufhin sie starb. Oskar Ketelhut fehlt für die Rolle der tragische Unterton, er gibt eher die Wehwehchen des alkoholkranken Muttersöhnchens. Was seine Partnerin noch stärker wirken lässt in der Suche nach ihrer Geschlechterrolle. Einerseits ist sie mit maskuliner Souveränität und Schlagfertigkeit der Chef des Hofs – in Jacobs Nähe aber ein Mädchen, das erobert werden will. Das Haar macht sie sich zurecht, steckt Blümchen hinein, zieht das Sonntagskleid an, spreizt die Beine, entblößt die Schenkel, zieht Jacob lustvoll an sich heran, drückt einen Kuss auf seine Lippen: „Och, dor sitt överhaupt keen Drift in di! Dor kann ik ja glieks ‘n dode Liek küssen.“ Also weitersaufen. Bis zur Bewusstlosigkeit. Johanna lässt Träume, Hoffnung, liebestoll gemeinsame Zukunft fahren – bietet mütterliche Geborgenheit. Bitter, wenn sich der Angebetete nur „an ehr Bost utwenen un üm Vergevung bedeln“ will. Ein bisschen Frieden… nicht geläutert, nicht erlöst, aber vorübergehend das innere Toben der Schuldgefühle beruhigt, so wacht Jacob auf – „un de Maand mit sien dösig Grienen lacht sik kringelig över düt Spillwark!“ Die Bäuerin sucht nun keinen Mann mehr fürs Leben. Es siegt die Vater-Tochter-Beziehung. Weitermachen wie zuvor. „Soveel Spaass und Krawall“ allein mit Papa. Schuften und versauern. „Damminochmalto“.
Regisseur Michael Bogdanov sackt ganz tief hinein in die 40er-Jahre-Dramatik, verzichtet auf Brüche, Aufhellung, selbst komische Pointen werden dezent unterspielt. Kompromisslos konservativ – also beeindruckend präzise kommt die simple Psychologie rührend daher, ohne je ins Sentimentale abzurutschen. Mit welch sensibler Ausdruckskraft Sandra Keck das Gefühlschaos der Johanna nuanciert, die ruppige Unangreifbarkeit peu à peu ablegt, sich zur Liebenden durchringt, scheitert und ausweglos die alte Maskerade neu beginnt, das macht aus dem gelungenen „ernsten Stück“ sogar einen herausragenden Theaterabend.