Foto: Im Todestrakt. v.l.: Cornel Frey (Andres), Corby Welch (Tambourmajor), Camilla Nylund (Marie), Herrenchor © Karl Forster
Text:Andreas Falentin, am 21. Oktober 2017
Stefan Herheim ist ein brillanter Regisseur, der Stücke belebt, in dem er aus ihrem kulturgeschichtlichen Umfeld, ihrer Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte Abläufe entwickelt, mit denen er den Kern, die Substanz der Werke erfasst und bloßlegt, oft mit schönem Witz und ohne sich sklavisch der Handlungsdramaturgie zu unterwerfen. Nicht immer führt dieses Verfahren zu besonderen Aufführungen, gelegentlich sprengt es den ästhetischen Rahmen, die dramatische Struktur des Kunstwerks. Mit Alban Bergs „Wozzeck“ gelang Herheim jedoch eine stringente, mitreißende Inszenierung.
Die Bühne ist ein moderner Hinrichtungsraum. Bei beleuchtetem Auditorium wird die Vollziehung des Todesurteils an Franz Wozzeck verkündet. Bo Skovhus wird in roter Anstaltskleidung auf einer Liege festgeschnallt. Fast alle Figuren der Handlung sind anwesend: der Tambourmajor als für die Hinrichtung verantwortlicher Vollzugsbeamter, der Doktor als Anstaltsarzt, der Narr als Anstaltsgeistlicher. Der Hauptmann, Margret und die Handwerksburschen bilden das Wachpersonal, Chor und Statisten sitzen als Zeugen hinter einer Glasscheibe. Die Uhr rückt auf Sieben. In dem Moment, da der entscheidende Knopf gedrückt wird, gerät der Raum in Bewegung. Das Zifferblatt rotiert zurück. Wozzecks Leben zieht an ihm vorbei. In 90 kraftvollen Minuten.
Es ist, wie allgemein bekannt, ein trauriges Leben, dessen Chancenlosigkeit wohl selten so klar, so unbarmherzig, so brillant gezeigt worden ist. Durch den gewählten Kunstgriff, die subjektive, traumartig surreale Sicht des sterbenden Protagonisten, gewinnt Herheim eine große Freiheit in der Ausgestaltung der einzelnen Szenen, die er nicht einen Moment missbraucht. Jede Verzerrung, jede Übertreibung dient der Darstellung jener Chancenlosigkeit. Dieser Wozzeck ist ein Mensch ohne sozialen Status, zum Bodensatz herabgewürdigt in einem erbarmungslosen, gesichtslosen, sich selbst fütternden Systems, das ausschließlich Psychopathen hervorzubringen scheint. Matthias Klink und Sami Luttinen etwa lassen keine Möglichkeit aus, die Text und Musik bieten, um die Entmenschtheit, die auf Nichts beruhende Arroganz ihrer Figuren bloßzulegen. Marie ist bei Herheim Opfer wie Wozzeck. In ihre Affäre mit dem Tambourmajor – bei Corby Welch ein cooler, rücksichtsloser, angenehm entspannt singender Amerikaner, schließlich sind wir im Land der Todeszellen – gerät sie hinein, die Sache gerät ohne ihr Zutun außer Kontrolle und Marie außer sich. Erbarmungslos zieht die Schlinge sich zu um die beiden, denen die Welt kein Leben gewährt. Immer wieder treten Figuren vor das Bühnenbild von Christof Hetzer, geht das Licht im Zuschauerraum an, wird die vierte Wand durchbrochen, nicht um zu distanzieren, sondern um dem Zuschauer die Distanz zu nehmen. „Das geht dich an“, scheinen alle zu sagen, sogar der Hauptmann und der Doktor, wenn sie kurz vor Schluss mit Engelsflügeln über dem Bühnenbild sitzen, zwischen sich ein Tuch, auf dem die Übertitel erscheinen.
In Düsseldorf ist ein herausragender Theaterabend gelungen. Weil Herheim wirklich etwas zu erzählen hat und ihm spürbar daran gelegen ist, seine Zuschauer zu erreichen, was er unter anderem damit dokumentiert, dass er kurze Videos einsetzt, um bei aller Abstraktion, Büchners und Bergs Ursprungsschauplätze anzudeuten und so auch dem Nichtkenner von Stoff, Stück und Oper Teilhabe am Theatererlebnis zu ermöglichen. Und weil diese Aufführung auch auf der musikalischen Ebene eine besondere ist. Die Deutsche Oper am Rhein hat ein fantastisches Ensemble ohne Ausfälle zusammengestellt. Bo Skovhus und Camilla Nylund blicken beide auf lange, große Karrieren zurück. Ihre intensiven Darstellungen von Wozzeck und Marie verkörpern darin Höhepunkte. Beide klingen nicht mehr jung und bereits ein wenig schartig, aber sie bewegen sich souverän innerhalb der Möglichkeiten ihrer Stimmen, nutzen auch deren wenige Defizite zu hochexpressiver und sehr eleganter Darstellung. Nylund gelingt es nicht, ihre Stimme immer wieder herrlich entspannt sanft aufblühen zu lassen, sie wirft sich auch mit fast wütender Wucht in die zwischen Sprechen und Singen angesiedelten Phasen der Partie und führt brillant einen kurzen, wilden, komplett absurden Funkenmariechen-Tanz vor. Und Bo Skovhus glaubt man den Wozzeck, die zertretene Sanftheit, die es immer wieder wild aus ihm herausbrechen lässt, die Sehnsucht nach behütetem, behütendem Leben und das geheime Wissen, das keins zu haben ist, symbolisiert durch das einzige immer wieder auftauchende Requisit – ein Rasiermesser. Skovhus‘ Stimme hat im engeren Sinne keine Farben mehr, aber viel Leben. Seine letzten, leisen Momente werden viele Zuschauer vermutlich nicht mehr vergessen. Dritter, vielleicht sogar erster Protagonist der Aufführung sind die Düsseldorfer Symphoniker, die unter ihrem GMD Axel Kober der heiklen Partitur so gut wie nichts schuldig bleiben, flexibel in der Farbgebung, brillant in den vielen kleinen Soli, sensibel und energiegeladen bei den vielen dynamischen Auf- und Abschwüngen und stets eine Einheit mit dem Geschehen auf der Bühne.