Foto: "Reisende auf einem Bein" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Julia Wieninger, Ensemble © Stephen Cummiskey
Text:Dagmar Ellen Fischer, am 19. September 2015
Auf der Bühne sitzt Julia Wieninger vor einer Flugzeugfenster-Attrappe und schaut durch deren Öffnung Richtung Bühnenrückwand auf einen Film, der die vorbei fliegende Landschaft inklusive Landung simuliert. Oberhalb der Bühne, auf einer großen Projektionsfläche, ist die Schauspielerin als Protagonistin Irene zu sehen, dort sitzt sie im Flugzeug und schaut auf die Landebahn, während aus dem Off eine Erzählerin ihre Gedanken preisgibt: Irene landet mitsamt ihren Ängsten 1987 in West-Berlin, geflohen aus Ceausescus diktatorischem Regime.
Irenes Geschichte ist die einer in einem deutschsprachigen Dorf in Rumänien aufgewachsenen, jungen Frau, die über Jahre hinweg vom dortigen Geheimdienst Securitate als sogenannte Staatsfeindin bespitzelt, verhört und gedemütigt wurde, bevor sie nach Deutschland ausreisen durfte. Es ist Herta Müllers Geschichte, die sie in „Reisende auf einem Bein“ als erstem Buch im fremden Land 1989 veröffentlichte: Kurze Sätze. Schnelle Gedankensprünge. Ortswechsel ohne Vorwarnung, ständig in Bewegung zwischen Traumlandschaften, Bildern im Kopf und plötzlich einbrechender Realität: Der Text atmet das gehetzte, verunsicherte Leben Herta Müllers, die ihr altes Leben nicht wirklich hinter sich lassen konnte, in Deutschland indes nie tatsächlich ankam. Für eine hautnahe Darstellung dieses Dazwischen-Seins passen Katie Mitchells bewährte Mittel des Live-Video-Drehs, als ob sie (erst) dafür erfunden wurden: Als Schwarz-Weiß-Film ein Kunstwerk für sich, das sich während des Erzählens über sein eigenes Making-Of erhebt; und auf der Bühne darunter die Realität, wie sie sich für die Fliehende oft genug angefühlt haben muss — manchmal dunkel und undurchschaubar, dann wieder grell beleuchtet und bedrohlich.
Alles beginnt in einem Raum des rumänischen Geheimdienstes, Irene wird von einem sadistischen Hauptmann verhört. Die sachlichen Nahaufnahmen ihres Mundes samt einem Blatt Papier, das sie auf Befehl schlucken muss, verstören gleich zu Beginn. Ähnlich kurz und wie zerteilt hintereinander gereiht folgen sämtliche Szenen des neunzigminütigen Abends: Irene mit ihrer Freundin Dana, die sie in Rumänien zurücklässt; Irene in Büros deutscher Ämter; Irene mit Franz, den sie in ihrem Heimatort kennenlernt und in Deutschland wieder trifft; und Irene in den Mühlen des Bundesnachrichtendienstes. Doch vor allem: Irene in ihrer ersten Berliner Wohnung, die tatsächlich nicht mehr als ein weiterer Bretterverschlag auf der komplett zugestellten Bühne des Schauspielhauses ist, doch aus der Kameraperspektive so einiges zwischen Zufluchtsort und Lebenslabyrinth werden kann. Die logistische Leistung stammt von Bühnenbildner Alex Eales.
In Katie Mitchells Inszenierung ist Julia Wieninger einmal mehr überragender Mittelpunkt. Den zehn Schauspielern stehen rund doppelt so viele Techniker an Kamera, Licht und Ton gegenüber, die gemeinsam die Bühne bevölkern. Die Textfassung zum Bühnenstück erstellte die Regisseurin gemeinsam mit der Dramaturgin Rita Thiele, mitunter wurden Dialoge wörtlich aus der gleichnamigen Vorlage übernommen, zusätzlich jedoch auch andere Quellen der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hinzugezogen. Dadurch erhalten einige Figuren ein prägnanteres Profil, andere fallen gänzlich weg.
Titel von Buch und Theaterstück beziehen sich auf den Satz, der vollständig lautet „Reisende auf einem Bein und auf dem anderen Verlorene.“ Das Verlorensein wirkt durch die Bilder des Schauspiels, das ein Film wurde, beunruhigend nah in den Zuschauerraum hinein. Die Uraufführung zum Saisonauftakt am Deutschen Schauspielhauses Hamburg wurde lange beklatscht.