Foto: Immer schön auf Trab bleiben: Rainer Philippi als Bettlerchef Jonathan Jeremiah Peachum. © Bettina Stöß
Text:Michael Laages, am 15. Juni 2014
Schön wär’s ja, wenn im Gang der Generationen die zwanghafte Erbsenzählerei nun langsam zu Ende ginge, mit der die Erben von Bertolt Brecht und Kurt Weill die Inszenierungspraxis der „Dreigroschenoper“ über Jahrzehnte so beharrlich behindert haben; schön also, wenn eine ebenso ernsthafte wie gewitzte Fassung wie die von Sebastian Baumgarten für das Stuttgarter Schauspiel bald schon die Regel sein könnte. Nicht sehr massiv, aber deutlich greift Baumgarten ein bei verzichtbaren Details, streicht sogar komplett den (immer missverstehbaren) Schlusschoral sowie eine Menge in den kleinteiligen Tableaus im Haus des Wohltätigkeitsunternehmers Peachum – dank einer verbindlichen Grundvereinbarung über Ziel und Zweck der Neu-Betrachtung aber gerät die sehr klar und kraftvoll und kompakt.
Drei veritable Affen erklären uns „lieben Primaten“ in der „Postmodernen Vorschule“ zunächst mal die Welt, besser: deren Ende. Ein Text des (im Theater ja überaus gern zitierten) Philosophen Giorgio Agamben beschwört Nieder- und Untergang herkömmlicher Zivilisation im Verschwinden bürgerlicher Individualität; die kleinbürgerlichen Kämpfe um Aufstieg und Fall in Mister Peachums Caritas-Konzern wie in der kriminellen Bande des bewährten Räubers und notorisch herumhurenden Womanizers Macheath erscheinen damit im Licht längst abgewickelter Vergangenheiten. Auf dem Planet der Affen folgt dem belehrenden Prolog also pure Unterhaltung aus dem Museum der Ideologien; so steht’s auch auf dem Projektionsvorhang. Eine Versuchsanordnung ist zu besichtigen – nicht umsonst läuft Geschäftsmann Peachum sehr oft und energisch in einem Laufrad, mit rattenhaften Krallenhänden. Und Rainer Philippi geniesst sichtlich das Spiel mit Pose und Maske. „Ja renn‘ nur nach dem Glück!“, Motto im Song „Von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“, wurde wohl noch nie derart einleuchtend bebildert: rennend im Rad.
Thilo Reuthers Bühne und die aufgeschrillten Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes verbinden sich vorzüglich mit Baumgartens Inszenierung. Die spielt intensiv mit Hinweisen auf den neuen Osten Europas – der namenlose Bettler zu Beginn trägt ein russisches Rossija-Shirt und wird von Frau Peachum ratzfatz zum Doppelwhopper umkostümiert; später gibt sich Lucy, Tochter des Polizeichefs Brown, als pralle Polin. Und dieser Brown und Macheath erinnern sich im „Kanonen-Song“ auch nicht an Kriege in Hinterindien, sondern in Aserbeidschan – mit jenen arg holprigen Zeilen („Von der Ukraine/zurück zum Rheine …“), mit denen Brecht noch aus dem US-Exil gegen die amerikanisch beförderte westdeutsche Wiederbewaffnung agitierte.
Der Osten ist bei Baumgarten ein Supermarkt mit Dumping-Preisen – und als Labor-Arrangement mit Primaten im Hamsterrad, unter der Regie der Affen, hält die „Dreigroschenoper“ auch diese freche Motiv-Bastelei erstaunlich umstandslos aus. Zumal sie mit dem siebenköpfigen Jazz-Orchesterchen um den Pianisten und Arrangeur Max Renne fabelhaft klingt. Und auch gesungen wird durchweg prima: von Philippis Peachum sowieso, aber von auch Gattin Susanne Böwe und Tochter Hanna Plaß. Die Bande um Johann Jürgens als Macheath gerät zuweilen ein wenig arg albern, Horst Kotterba trägt als Brown über schmierig-grauem Langhaar eine monströse Fellmütze. Im neuen Osten – das sagen Baumgartens Bilder – vollzieht sich markanter als sonstwo der Niedergang der Alten Welt.
Die neue wird den Affen gehören. Der Jubel in Stuttgart war beträchtlich. Danach siegte Brasilien im Auftaktspiel. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist die Mafia gegen die Fifa?