Foto: Ensembleszene aus "Linda di Chamounix" in Gießen. Im weißen Kleid Naroa Intxausti in der Titelrolle © Rolf K. Wegst
Text:Wilhelm Roth, am 2. Februar 2015
Reduziert man die Geschichte, die Donizettis Oper „Linda di Chamounix“ erzählt, auf ihren Kern, so findet man geradezu die Mustervorlage für eine romantische Belcanto-Oper. Linda, eine junge Frau aus dem Dorf Chamounix in Savoyen, steht zwischen zwei Männern. Ein Marchese stellt ihr nach, deswegen flieht sie nach Paris. Sie liebt Carlo, hält ihn für einen Maler, weiß nicht, dass er auch aus dem Adel stammt, ein Verwandter des Marchese ist. Nach dem Willen seiner Mutter soll er eine andere Frau heiraten. Linda verfällt darauf hin dem Wahnsinn. Aber es gibt ein Happy End. Carlo entscheidet sich zuletzt doch für sie. So ungefähr wird „Linda“ in Nachschlagewerken kurz charakterisiert.
Die Oper selbst aber, die Donizetti zusammen mit dem Librettisten Gaetano Rossi schrieb, ist sehr viel reicher an Personen und Motiven. Schon in einer Kritik nach der gefeierten Uraufführung 1842, im Theater am Kärntnertor in Wien, wurde vor allem die Verbindung von „fröhlichem Lachen“ und „Tränen der Wehmut“ gelobt. Dennoch gehört dieses Spätwerk Donizettis nicht zu seinen großen Hits, obwohl Toscanini es besonders schätzte. Wenn ein Theater aber einen hochdramatischen Koloratur-Sopran aufbieten kann, ist der Erfolg fast schon garantiert. Darum hat auch Edita Gruberova diese Rolle immer wieder gesungen.
Die Premiere am Stadttheater Gießen, die erste in Deutschland seit über 100 Jahren, sollte nun wohl endgültig den Rang von „Linda“ bestätigen. Das liegt einerseits am Regieteam. Für Hans Walter Richter, Regieassistent an der Oper Frankfurt, war es nach einigen kleinen die erste große Inszenierung. Der Bühnenbildner Bernhard Niechotz schuf verblüffende Raumlösungen. Die musikalische Seite der Aufführung war bei Florian Ziemen in sicheren Händen. Souverän führte er das Orchester, das Ensemble und den großen Chor einschließlich Kinderchor, durch die Partitur. Das sehr homogen besetzte Ensemble sang vorzüglich, die Sopranistin Naroa Intxausti in der Titelrolle war nicht der einsame Star, sondern die Prima inter Pares.
Beim neuen Blick auf „Linda“ verblüfft zunächst die soziale Thematik. Im Winter, wenn es im Dorf Chamounix keine Arbeit gibt, gehen Kinder und Jugendliche aus Savoyen nach Paris, um dort etwas Geld zu verdienen. Zu ihnen gehört auf der Flucht vor dem zudringlichen Marchese auch Linda. Der Marchese tritt in einer Operettenuniform auf, ein grinsender, böser Clown, der die in Armut geratenen Eltern Lindas mit einer Geldzuwendung erpressen will, um die Tochter zu bekommen. Doch auch Lindas angebeteter Carlo ist nicht frei von solchen Herrschaftsallüren. Wenn er für Linda in Paris eine schicke Wohnung besorgt, kauft er letztlich auch sie. Lindas Vater jedenfalls versteht es so, und verstößt die, wie er meint, sittenlos gewordene Tochter. Als Linda schließlich erfährt, dass Carlo eine andere Frau heiraten soll, bricht sie zusammen. Auch die Kirche, verkörpert durch den Präfekten von Chamounix, hilft ihr nicht, will zwar Trost spenden, und gehört doch auf die Seite der Herrschenden. Über der Bühne hängt während der ganzen Aufführung ein sehr schickes, weiß leuchtendes Kreuz.
Lindas Wahnsinn ist also mehr als eine Reaktion auf den Liebesverlust, er ist auch eine Folge der Demütigungen von allen Seiten, sie sieht keinen Ausweg mehr. Nur ihr Jugendfreund Pierotto, eine Hosenrolle, steht immer zu ihr. Sofia Pavone singt und spielt diesen Part ganz anrührend, aber nicht sentimental, und wird am Ende vom Publikum ähnlich gefeiert wie Linda. Wenn sich zum Schluss alle Protagonisten wieder in Chamounix treffen, das Happy End in die Wege geleitet wird, sogar der Marchese ohne Uniform zum Menschen wird, mag sich die unbeschwerte Hochzeitsfröhlichkeit dennoch nicht einstellen. Kann Linda all den Menschen jetzt vertrauen, die sie verletzt und betrogen haben?
Die Atmosphäre der Inszenierung wird stark von der Bühne bestimmt. Ein großer, asymmetrischer Kasten, der sich weit nach hinten erstreckt, Halle, Kirche, Wohnung, ganz 19. Jahrhundert mit Hirschgeweihen und schon Fotografien an der Wand. Im Paris-Akt ist der hintere Teil der Bühne durch einen großen roten Vorhang abgedeckt. Lichtwechsel und Musik verändern den Raum immer wieder. Er ist auch ein Labyrinth. Erste Irritation, wenn Linda im ersten Akt, wo sie noch sehr jung wirkt, plötzlich durch einen Schrank verschwindet, so wie Kinder sich in einer Wohnung überall verstecken. Türen, Fenster, Schubladen, Schränke – eine Zauberwelt. Und die ganze Geschichte gewinnt Züge eines surrealen Traums. Was hat Linda wirklich erlebt? Ein inszenatorisches Detail, das ganz nebenbei mitgespielt wird, gibt Rätsel auf. In Paris krümmt sich Linda ein paar Mal, drückt auf ihren Bauch. Ist sie schwanger? Bei ihrer Rückkehr nach Savoyen im letzten Akt hat sie rote Flecken auf ihrem Kleid. Und ihre Mutter trägt ein weißes Bündel, auf dem auch rote Farbe zu sehen ist. Hatte sie eine Fehlgeburt? Oder, noch seltsamer: Hatte sie einen Alptraum von einer Schwangerschaft, von einer Fehlgeburt?
All diese divergierenden Elemente werden von der Musik zusammengehalten. Donizetti ist ein Wirkungskomponist par excellence. Lyrisches Verweilen ist, jedenfalls in „Linda“, eher die Ausnahme. Die Musik treibt die Aktion voran. Es gibt selten Arien, statt dessen Duette, Ensembleszenen, Chorszenen. Die Oper lebt von der Auseinandersetzung, dem Kampf zwischen den Personen. Die Musik ist handfester als die von Verdi, was ihr fehlt, kommt vom Spiel der Sängerdarsteller. Darum ist es so wichtig, dass „Linda di Chamounix“ nicht als Sängerfest veranstaltet wird, sondern als Schauspiel der Leidenschaften. Das ist in Gießen gelungen.