Foto: Das Labyrinth von oben. Blick auf Ensemble, Orchester und Publikum von "Liberazione" in Wuppertal © Claudia Scheer van Erp
Text:Andreas Falentin, am 21. April 2018
Francesca Caccinis frühbarocke „Liberazione“ als Klanginstallation mit Smartphone-Vermittlung fasziniert als überraschend sinnliches Experiment
Woher kommen die Töne? Was ist die Geschichte? Wohin muss ich mich, wohin will ich mich bewegen? Muss, will ich mich überhaupt bewegen? Die Bühne ist ein Labyrinth. Das Publikum wird über eine Art Brücke über den Orchestergraben hingeleitet und schaut erst von oben drauf, ehe die eigentlich eher einfache Konstruktion heraufgefahren wird und zum Betreten einlädt. Von nun an sind wir Publikum Teil – von was eigentlich?
Francesca Caccini ist musikhistorisch betrachtet eine Ausnahmeerscheinung, die erste Frau, von der Noten gedruckt und von der eine Oper aufgeführt wurde. Zu erklären ist das sogar recht leicht: der Vater Giulio war selber ein berühmter Komponist, der aus seiner Familie ein Musizierensemble auf Endlostournee machte, eine Art prähistorischer Kelly-Family. Tochter Francesca, mit einer schönen Stimme begabt, fiel dem französischen König Henri IV. ins Auge und gelangte, unter anderem durch seine Protektion, an den Florentiner Hof, der damals faktisch von zwei Frauen, Christine von Lothringen und ihrer Schwiegertochter Maria Magdalena, beherrscht wurde. So konnte Caccini sich als Komponistin etablieren. Die Oper “La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina”, anlässlich des Besuches eines polnischen Prinzen 1625 uraufgeführt, ist die einzige ihrer Opern, die erhalten ist. In den letzten Jahren wurde sie immerhin zweimal auf CD aufgenommen und mehrfach, etwa bei den Tagen Alter Musik in Herne, konzertant aufgeführt.
Wuppertal versucht es jetzt szenisch, aber alles andere als konventionell. Notwendige Bedingung für den Besuch der Aufführung ist der Besitz eines Smartphones (Digitalverweigerer werden mit Leih-Tablets ausgestattet). Man hat eine App herunterzuladen und wird dann mit Untertiteln, vorproduzierten und Live-Videobildern versorgt. Vermutlich stand diese Idee des Umgangs mit dem Digitalen am Beginn der konzeptionellen Überlegungen der aus den Regisseuren Anna Brunnlechner und Benjamin David und dem Ausstatter Valentin Köhler bestehenden Gruppe AGORA. Allerdings wirkt das Smartphone für diese Produktion eher wie ein Katalysator. Es mag die Kreativität befördert und die Interpretation inspiriert haben, aber für die Aufführung benötigen tut man es nicht wirklich. Denn die Geschichte – der klassische „Alcina“ – Stoff um den verführten Ruggiero, der von einer anderen Frau befreit wird, was gleichzeitig die verwunschene Insel entzaubert und Alcina ihre magischen Kräfte nimmt – ist einerseits so einfach, dass sie sich fast von selbst vermittelt, andererseits so kleinteilig und ritualisiert erzählt, dass Übertitel hier kaum eine Verständnishilfe darstellen.
Die Insel ist in Wuppertal, wie bereits gesagt, ein Labyrinth, bevölkert von merkwürdigen Wesen mit Federn auf dem Kopf und an den Händen. Der gefangene Ruggiero irrt hindurch, ob auf der Suche nach dem Ausgang oder nach Alcina, ist nicht klar. Diese zeigt sich nicht. Die Spinne im Netz bleibt unsichtbar. Ihre Gegenspielerin Melissa hackt sich hinein in dieses Netz, das sich durchaus virtuell denken lässt, und versucht Ruggiero zu befreien. Am Ende ist das Labyrinth verschwunden, wir stehen, wie Melissa und Alcina, wie bestellt und nicht abgeholt auf der Bühne herum – und Ruggiero lässt sich im hell erleuchteten Zuschauerraum vom Herrenchor für seine Flucht feiern. Wieder haben die Männer gewonnen.
Das Zentrum dieses ungewöhnlichen Abends ist weder Szene noch Musik. Es ist der Klang. Der wird über ein komplexes Übertragungs- und Lautsprechersystem verfremdet, gleichzeitig entkörpert und verkörperlicht. Nie wissen wir, wo sich der singende Mensch gerade aufhält, irren durch das Labyrinth vor allem auf der Suche nach den Urhebern der wunderbaren, stets Verführung atmenden Töne, dringen so wie von selbst in Francesca Caccinis Musik ein, die den Vergleich mit Monteverdi kaum zu scheuen hat.
Zumindest nicht, wenn ihre Musik so hinreißend musiziert wird wie in Wuppertal. Vom Cembalo aus animiert der junge Dirigent Clemens Flick das zehnköpfige, aus handverlesenen Spezialisten wie dem Zinkenisten Roland Wilson und Mitgliedern des Sinfonieorchesters zusammengestellte Instrumentalensemble zu großer Präzision und Spielfreude. Der Farbenreichtum dieser Musik ist kaum zu schildern und wird durch die technische Gestaltung des Klanges eher noch befördert. Auch Chor und Ensemble tun das ihre. Ralitsa Ralinova lässt als Alcina einen biegsamen, edel timbrierten, schlank geführten Sopran hören, Simon Stricker ist ein kraftvoller Ruggiero mit frei strömendem, hoch gelagertem Bariton und Joyce Tripiciano liefert mit ihrem dunkel timbriertem, sehr variabel und etwas vibratös geführtem Mezzo ein ideales Gegengewicht.
Als digitales Erlebnis ist diese „Liberazione“ zu vernachlässigen, als Klanginstallation deutlich zu empfehlen.