Foto: Olaf Schmidts "Kaspar Hauser" am Theater Lüneburg. Kilian Hoffmeyer, Ensemble © t&w/AndreasTamme
Text:Andreas Berger, am 20. Januar 2014
Kaspar Hauser, Findelkind. Einfach armes Luder oder vertauschtes Fürstenbalg oder ein einziger großer Betrug? An dem Knaben gewiss, der seine Kindheit in einem Verlies unter primitivsten Bedingungen verbringen musste und, eingeschränkt im Gehen und Sprechen, plötzlich wieder unter die Leute geworfen wird, ein guter Wilder, freigegeben zur Zivilisation.
Lüneburgs neuer Tanzchef Olaf Schmidt hat sich den dankbaren Stoff nach einer wahren Begebenheit aus dem 19. Jahrhundert für seine erste Abendstückpremiere im Theater Lüneburg ausgesucht. Das Aufeinandertreffen von ungebärdiger Nichtverbildetheit und besserer Gesellschaft gibt ihm dabei die Gelegenheit, verschiedenste Tanzstile einzusetzen, wie sie in seiner vom Vorgänger ererbten heterogenen achtköpfigen Compagnie anzutreffen sind. So kann er die Tänzer gemäß ihren speziellen Fähigkeiten mit Rollen bedenken.
Für den Kaspar hat er in Kilian Hoffmeyer einen bei allen Muskeln noch jungenhaft wirkenden Tänzer, der mit großen Augen in die fremde Welt guckt. Steifbeinig und mit ausgestreckten Armen rennt er auf alles Neue zu. Eine Sehnsucht steckt dahinter nach auch körperlicher Geborgenheit, die er offenbar nie erfahren hat. Dem folgt immer wieder ein Zusammenfallen ins Innerliche, wenn er mit den Nägeln auf dem Boden kratzt. Hoffmeyer gelingt dieser Gemütswandel gut.
Schmidt schaltet da immer wieder Szenen mit einer barockmusikalisch überhöhten Mutterfigur dazwischen, die auch schon mal mit seinem einzigen Spielzeug, einem Ziehpferdchen, über die Bühne wandelt. So stimmungsvoll verfremdend das mit dieser madonnenhaften Sängerin (Kristin Darragh) auch wirkt, tänzerisch wäre der umgekehrte Weg packender gewesen: eine stärker kreatürliche Begegnung von Kaspar und Mutter-Double, die ihrer Verkleidungen entblößt zu existentiellerer Expressivität finden dürften. Und ihren Gegenpart im Tanz mit einem kreatürlichen Double des geheimnisvollen Manns mit dem Zylinder hätten finden können, einer Art Figuration des Todes. Damit wären die beiden Urtriebe des Menschen ausgedrückt und Kaspars Geworfensein in die Welt hätte Parabelcharakter für uns alle.
Die gebildete Welt jedenfalls tut sich schwer damit, dem Menschen Kaspar Heim zu sein, sie zwängt ihn in Verhaltenscodices, Kleidung und Formen, wo er herzliche Zuneigung bräuchte. So wird Kaspar gar zum Studienobjekt weißbekittelter Wissenschaftler, werden ihm die Arme verbogen, tippt ein Spitzenfräulein mit dem Fuß an seine Stirn, tritt man auf ihn. Lehrer Daumer (Francesc Fernandez Marsal) greift da eigentlich auch immer erst zu spät ein und verteidigt ihn mit dem Stuhl gegen die Meute.
Immerhin lernt Kaspar schnell, bringt es inmitten der klassisch tanzenden Formation zu Drehsprung und Pirouette, wendet den Handkuss aber auf Frauen und Männer an. Während das Spitzenfräulein ihm eine Ohrfeige verpasst, als er unschuldig nach ihren Brüsten greift, fühlt er sich von den Avancen des Lords geschmeichelt und erstmals anerkannt. Schmidt wählt die Tänzerin Giselle Poncet als Lord, was nicht überzeugt. Schließlich zerreißen die Menschen Kaspars Tagebücher, und er flieht in den Wald, der mit seinen Ranken bereits den Salon durchzog. Am Ende ist alle Zivilisation der Natur ausgeliefert. Kaspar umarmt den Zylindermann, seinen Mörder, seinen Tod. Sein Lebenskreis schließt sich nur eher als der jener, die sie klug im Bestehen sich wähnen.
Schmidt ist ein gut mitvollziehbarer Theaterabend mit Live-Orchester, Gesang, Klavier und bunten Formen gelungen. Wenn’s hart auf hart kommt im Innersten des Einsamen, sollte er sich choreographisch stärker bekennen. Auch manche Synchronensembles sind dann doch wieder eher hübsch als bedrohlich. Aber der Aufbruch in eine vielfältigere Tanzsprache ist gemacht. Und das Premierenpublikum folgte ihm mit großer Begeisterung.