Foto: Claude Debussys "Pelléas et Mélisande" an der Bayerischen Staatsoper. Elliot Madore (Pelléas), Elena Tsallagova (Mélisande), Markus Eiche (Golaud), Peter Lobert (Ein Arzt) © Wilfried Hösl
Text:Klaus Kalchschmid, am 29. Juni 2015
Es ist eine brutale Szene der Misshandlung, wenn Golaud aus heiterem Himmel an seiner scheuen Mélisande einen Exorzismus vornimmt und sie an ihren langen Haaren am Boden hin- und herschleift. In Christiane Pohles gewagter, vieles verweigernder Inszenierung von Claude Debussys einzig vollendeter Oper „Pelléas et Mélisande“ zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele zeigt im eher intimen Prinzregententheater dagegen, was die beiden eigentlich wollen: Mélisande zwingt den rüden Mann in eine verzweifelte Umarmung, ein Engumschlungensein, das sich einer Liebe versichert, die es vielleicht nie gegeben hat und eine Sehnsucht nach unerreichbarer Wärme und Nähe ausdrückt. Das widerspricht zwar dem Wortlaut des Librettos, erzählt aber ungleich mehr als der auch sonst oft so symbolistisch aufgeladene und verrätselte Text. Die vorausgegangene Parallelszene, in der Golauds Halbbruder Pelléas die Haare Melisandes liebkost, bis er darin gefangen ist und ihr wehtut, ist ein Übergriff, den die Frau abzuwehren sucht, szenisch ebenfalls kühn umgesetzt. Schon hier verweigert Pohle alles Offensichtliche, sieht man weder wallendes, langes Haar noch einen Turm, von dem dieses herabhängen kann. Stattdessen stehen die beiden jungen Menschen nebeneinander und Pelléas berührt nur sich selbst, seine Arme, sein Gesicht, seinen Bart. Elliot Madore singt und spielt diese autistische Seligkeit eines Jungen wunderbar selbstvergessen, während Elena Tsallagova still in sich hineinzusingen scheint.
So deutlich (viel-)deutbar diese Szenen sind, so verwirrend ist – vor allem in den ersten drei Akten das Konzept der Regisseurin, die märchenhafte Geschichte aus dem Inneren der Figuren heraus zu erzählen, wobei Sehnsucht, Traum, Wahn und scheinbare Realität verschwimmen, wie die Regisseurin in einem Interview sagt. Die bewusste Verwirrung beginnt mit dem (Einheits-)Bühnenbild: ein unwirtlicher 50er- oder 60er-Jahre-Raum mit künstlichen Oberlichtern, rechts eine Art Hotel-Empfang, links ein leicht gekippter Kasten, darunter der Bühnenboden teils aufgerissen, im Hintergrund selbständig sich öffnende und schließende Doppeltüren aus Glas, alles kalt, farblos, oftmals hell ausgeleuchtet. Ab dem vierten Akt ist diese Konstruktion baufällig, müssen die Decken abgestützt werden (Bühne: Maria-Alice Bahra).
Noch bevor der erste Ton erklingt, steckt eine junge Frau – sie wird sich als Mélisande entpuppen – Zweige, die teils mit künstlichen weißen Blüten bestückt sind, in Töpfe, die zwischen normierte Einheitsstühlen plaziert sind, wie man sie überall in Kantinen oder Gemeindesälen findet – vom Wald der Partitur also nur eine pervertierte Ahnung. Später kommen entsprechende Sessel und ein großes Kanapée dazu, auf dem Mélisande sitzend an der Rampe stirbt und langsam nach hinten gehend die Bühne verlässt. Golaud steht zu Beginn hinter dem Tresen der Rezeption oder Poststelle, Mélisande ganz vorne. Kein Blick, keine Berührung, kein Reagieren aufeinander.
Immer wieder tauchen durch die Glastüren Menschen auf, die Pakete abholen oder Briefe. Plötzlich sieht man einen jungen Mann mit riesigen weißen Engelsflügeln, die er irgendwann abnimmt und einfach weggeht. Der Arzt, der später am Krankenbett Mélisandes steht, misst sich vorher schon selbst den Puls. Der sonst nur hinter der Bühne singende Hirte (Evgenij Kachurovsky) tritt auf – mit silbernen Hufen! Eine Frau klettert auf einer langen Leiter in den Bühnenboden und wieder herunter. Was wann wo wie warum passiert, erschließt sich wohl erst nach mehrfachem Sehen.
Dass dennoch ab den suggestiv modellierten ersten Takten eine große Spannung den Abend trägt, liegt an den hervorragenden Sängern und einem Dirigenten wie Constantinos Carydis, der sich auf die Inszenierung einlässt und etwa die Szene, wenn Pelléas sich in den Haaren Mélisandes verliert, mit einer derart geheimnisvoll zurückgenommenen Aura versieht, dass man gar nichts mehr sehen muss, sondern alles über die Ohren wahrnimmt. Und es liegt an einem Staatsorchester, das mit einer stupenden Klarheit und kammermusikalischen Durchsichtigkeit spielt.
Zu einem Mirakel gerinnt auch das Ende des ersten Akts, wenn ein Schiff sich in der Ferne verliert und die Figuren ihm angstvoll hinterhersinnen, während Carydis den Moment, als Pelléas und Mélisande nach ihrem gehauchten Eingeständnis der gegenseitigen Liebe angesichts der bevorstehenden tödlichen Bedrohung in Ekstase verfallen, großartig aufrauschen lässt. Selbst wenn Pohle ihnen den Kuss verweigert, zeigen beide doch die allergrößte Intensität. Denn Elliot Madore besitzt neben einem schönen, durchaus sinnlichen hohen Bariton eine jünglingshafte Ausstrahlung, dessen Lächeln die Mélisande der Elena Tsallagova verzaubert. Auch sie ist bei aller Verinnerlichung mit feinem Sopranglanz enorm präsent – zusammen bilden beide also eine Idealbesetzung.
Markus Eiche legt als Golaud alle Wut und tief verborgene Verletzung, die sich in Eifersucht und Aggression entlädt, in seinen kernigen und doch warm leuchtenden Bariton und macht so aus seiner Partie die vielleicht bemitleidenswerteste und anrührendste des ganzen Abends. Wenn er seinen Sohn Yniold (sehr sicher, mit ebenso großer Bühnenpräsenz wie tragfähigem Sopran: Hanno Eilers von den Tölzer Knaben) am Ende des dritten Akts unmittelbar vor der Pause bedrängt, zu berichten, was sich im Zimmer von Pelléas und Mélisande ereignet oder eben nicht, gibt es zum ersten Mal eine – wenn auch gewaltsame – Berührung zwischen zwei Menschen.
Enorm überzeugend ist auch der Arkel von Alastair Miles, der sich im karmesinroten Pullover und Cordhosen (Kostüme: Sara Kittelmann) permanent an seinen alten Stuhl wie an einen Thron klammert, statt die körperliche Nähe Mélisandes zu suchen – eine zwanghafte Geste, in der alles gelebte Leben liegt. Schade, dass Okka von der Damerau als Geneviève nur wenig zu singen hat und mit hoch toupierter Betonfrisur aussieht wie die böse Königin aus „Alice in Wonderland“.
Am Ende gewaltiges, nicht enden wollendes Buh für das Regie-Team und verhaltene Begeisterung für Sänger, Dirigent und Orchester.