Und es geht – vielleicht kein Zufall – neben der Prüfungsangst um eine geheimnisvolle Bibliothek, ihre Bücher und ihre merkwürdigen Bewohner. 16 irrational ineinander fließende Traumbilder – zusammen mit Cavazzoni konzipiert – hat sie im Auftrag des Nationaltheaters in Mannheim vertont. Sie sind mit allerlei grotesken, singenden, sprechenden und agierenden Gestalten gefüllt. Singen heißt bei Ronchetti: viel Sprechgesang, viel Parlando, Stimmverfremdung und das Kopf- oder Brustregister mit einbeziehen. Eine große Tenorpartie gibt es für den an Schlaflosigkeit leidenden Professor Natale. Ziad Nehme aus dem Mannheimer Ensemble besteht sogar mit einem Solovortrag – ohne Orchester. Eine Koloratursopranpartie ist Iris: eine aus dem Kellerhimmel einfliegende Bibliothekarin der „Rara“ und „verstellten Bücher“, mit Vera Lotte Böcker höhen- und intonationssicher besetzt. Darüber hinaus schiebt sich der Kopf eines Kindersoprans durch ein überdimensioniertes aufgeschlagenes Buch: auch wenn der zweite Einsatz ziemlich schräg kommt ein ganz zauberhafter Moment, ein Hintergrundchor fängt mit stehenden Harmonien die Intonationsprobleme auf.
Es gibt den Bibliotheksdirektor als Dompteur mit weißem Zylinder, verkörpert vom Ensemble-Bariton Magnus Piontek, der Scheinprüfungen simuliert und nebenbei mit einem Lehrerstab virtuos herumwirbelt und die merkwürdigen Bewohner dieser Untergrundbibliothek in Schach hält. Giro Lamenti (eine Countertenorpartie) ist mit Matthew Shaw besetzt, der die stimmlichen Anforderungen zwischen Flüstern, kultiviertem Parlando und vielen Schreien hervorragend besteht. Die beiden Clowns müssen sogar mehr spielen als singen und werden akustisch von Piccoloflöte und Kontrafagott begleitet, die direkt vor Dirigent Johannes Kalitzke sitzen. Das Orchester ist im hochgefahrenen Orchestergraben immer zu sehen. Regisseur und Bühnenbildner Achim Freyer hat die Bühne bis zum Dirigenten vorgezogen. Das Orchester sitzt im unteren Teil. Dahinter Ebenen, die weiter in die Tiefe gehen und sich verjüngen.
Das alles bekommt hinter dem mit Spiralzeichen bemalten Gaze-Vorhang etwas Schummriges. Die Zuschauer sitzen unmittelbar vor einem rätselhaften Tunnel, der durch immer neu projizierte Bilder changiert, von einer Großstadtfassade zu einem Bibliotheksgang oder auch U-Bahnschacht. Und man hat an diesem Abend den Eindruck, dass von diesem Schacht sogar ein muffiger Geruch ins Parkett weht! Die Groteske um Giro Lamenti im himmelblauem Plüschanzug mit leuchtenden Häschenohren, der seinen Auftritt mit einem Schrei der Verzweiflung beginnt, rührt dennoch wenig. Das mag daran liegen, dass er in seiner Rolle isoliert an der Rampe vorne klebt – der Tunnel ist ja ein Traum seiner Hirnwindung hinter den Augen! Mit seinem stilisierten, immer wieder auch ruckartig wiederholten Bewegnungsrepertoire bleibt er eine abstrakte Figur. Daran ändert auch das überaus kunstvoll inszenierte Tunnelgewimmel mit seinen farbigen Gestalten nichts. Nasale in roter Riesenhose, ihm zugeordnet ein leuchtend grün gekleideter Oboist mit windschnittiger grüner Haarpracht als seine verflossene Geliebte, mit der er sich duelliert. Oder die weiße Gestalt von Rasorio und seinen Adjutanten-Clowns in gepunkteter Riesenhose und goldenem Anzug. Die Handlung bebildert Freyer äußerst phantasievoll, das kann man gar nicht anders sagen. Sogar märchenhaft. Überall zündet eine Idee.
Auch Ronchetti zündet unentwegt kleine Feuerwerke. Sind sie es die den über 80-jährigen Regisseur zu der für ihn ungewohnten Bildflut animiert haben? Ronchetti schiebt immer wieder mit rhythmisch akzentuierten Ostinati an, die mal mit Schlagzeugeffekten aus dem Inneren eines Klaviers oder mit zusammengeschlagenen Steinen aufgefrischt werden oder sich zu einem grotesken Marsch aufspielen. Die Harfe hat eine große Improvisation – wann hätte man das in einer Opernpartitur gehört? Es scheint darüber hinaus immer mal wieder so etwas wie improvisierte Gruppenaktionen zu geben. Außerdem Instrumentalsoli in den Streichern und der personifizierten Oboe auf der Bühne natürlich. Die wenigen mächtigen Orchesterstellen beschränken sich auf stehende und nur leicht changierende Cluster. Da hätte man sich vielleicht mal eine größere und differenziertere Orchestergewalt gewünscht. Insgesamt aber bleibt Lucia Ronchettis erste große Partitur erstaunlich transparent. Sehr leicht. Ein flüchtiger Traum eben! Aber ein absolut abewchslungsreicher Traum, der zweieinhalb Stunden nicht an Spannung verliert!
Die Bibliothek rückt die gesuchten Informationen allerdings nicht heraus. Am Ende bleibt offen, ob es für Giro Lamenti ein gutes oder ein böses Erwachen gibt! Das Publikum in Mannheim bejubelt jedenfalls über eine Viertelstunde lang diese ungemein phantasievolle Produktion. Das Regieteam um Achim Freyer, er mit dickem roten Herz aufgesteckt am Jackett, zieht sogar drei Mal über die Bühne. Musikalisch ist hier Großartiges geboten worden. Gerade weil die Riesenpartitur so filigran ist, fallen die Einzelleistungen um so mehr ins Gewicht. Das hat funktioniert. Auch die Komponistin wird euphorisch gefeiert.