Foto: Szene mit Kurt Streit (Anatol; sitzend), Jenny Carlstedt (Erika; aus der Tür schauend), Helena Döse (Alte Baronin; auf der Treppe) und Charlotta Larsson (Vanessa; rechts). © Barbara Aumüller
Text:Wolf-Dieter Peter, am 3. September 2012
„Vanessa ist eine Oper fürs Publikum und nicht für die Schriftgelehrten. Das ist keine Empfehlung heutzutage, da das Ansehen eines Musikwerkes parallel mit den Schwierigkeiten zu wachsen scheint, die es dem Hörer bereitet“ – das schrieb der hochgebildete Opernliebhaber Heinrich Kralik über Samuel Barbers einzige abendfüllende Oper 1958. Genau das war nun über 50 Jahre später in Frankfurt zu erleben: beeindrucktes Schweigen angesichts des eben erlebten Dramas, dann Jubel für das ganze erstklassige Team – und danach nölende Kritiker, die die sofortige, also höchst bühnenwirksame Zugänglich- und Eindringlichkeit von Musik und Text als „simpel“ und „vorgestrig“ einstuften.
Für den unvoreingenommenen Musiktheaterfreund ist das Werk mitnichten „passé“. Da wart eine reiche Adelige alle Contenance: nach dem tiefgehenden Liebeserlebnis mit Anatol wartet Vanessa in ihrem nordischen Palais, 20 Jahre – und lässt alle Spiegel und Porträts verhängen, um den eigenen Alterungsprozess nicht zu sehen. Wie die eisige Natur rundum, ist alles erstarrt: ihre alte Mutter spricht nicht mehr und die junge Nichte Erika wird wie das Heidekraut im Topf beschnitten, also auf Restkonversation, Klavier und Anweisungen für das Personal reduziert. Dann kommt Anatol – doch es ist der Sohn des einstigen Geliebten, inzwischen ein gevifter Flaneur durch die Welt der Gefühle: „Er ist ein Mann von Heute, er sieht, was sich ihm bietet – und er nimmt das Leichtere“ charakterisiert ihn die alte Baronesse. Anatol verführt Erika, die schwanger wird, den Bonvivant durchschaut und nun eine Gefühlstiefe von ihm verlangt, die er nicht besitzt. So gleitet er in die Arme der noch immer schönen Vanessa, die alle Oberflächenreize genießt und Anatol schließlich heiratet. Erika unternimmt im Eis einen Selbstmordversuch, um den unerwünschten Embryo zu verlieren, und überlebt um den Preis innerlicher Erstarrung. Während Vanessa mit Anatol in ein Hautevolee-Leben zwischen Paris und Budapest aufbricht, lässt Erika die Spiegel verhängen und beginnt zu warten… vielleicht nicht gültig für „Emma“-orientierte Business-Women, aber zwischen Monaco, London und Stockholm in den sogenannten „besseren Kreisen“ anzutreffen.
Regisseurin Katharina Thoma hat sich dafür von Ausstatterin Julia Müer eine an die Bilder Vilhelm Hammershøis erinnernde Wohnhalle aus bleichem Holz und Glas bauen lassen. Eine enge Wendeltreppe führt wie die verstiegenen Gefühle nach oben – und statt der rechten Wandseite wächst das Eis des nordischen Winters herein. In das von den emotionalen Gespenstern Ibsens und Strindbergs durchzogene Kammerspiel führte Thomas bestechende Personenregie auch surreale Züge ein: Ein zweiter Anatol erscheint als Sehnsuchtsobjekt mehrfach im Eis; Erikas „Schande“ macht der aus dem Eis hereinglotzende Dorfchor deutlich; Vanessas Liebesschwenk lässt ihre bislang umgedrehten Porträts auf Erika herabstürzen; Erikas Rettung durch Anatol wird parallel zu seinem Bericht nicht verdoppelt, denn dort draußen stößt er Erikas ins tödlich kalte Eiswasser. Im Hauptraum führte Thoma die fünf Hauptfiguren zu einer nuancierten Expressivität, die fesselte: Vanessas Aufblühen verkörperte Charlotta Larsson glamourös; mit Anatols kurzem Schwanken wie seinem dann egoistischen Elan vital bestach Kurt Streit; dazwischen der bemühte Hausarzt als gewollt „schlichte“ Charakterstudie von Dietrich Volle; all das beobachtete Helena Döses fast stumme Baronesse wie ein dunkles Mahnmal – vor allem das jungmädchenhafte Blühen und dann das wirklich sichtbare „Früh-Altern“ Erikas der mit ihrem Schicksal das Publikum überwältigenden Jenny Carlstedt. Sie alle sangen – und der Gesang vertiefte das Miterleben, weil Barber emotionsgenau komponiert hat: vom feinsinnigen Lied über den Bauerntanz zum emotionalen Schwelgen wie zum herzzerreißend grellen Ausbruch… alles sofort wirkend, ohne Studium der „Frankfurter Schule“. Dirigent Jonathan Darlington breitete all dies mit dem differenziert und dann auch opulent aufspielenden Frankfurter Orchester aus – alles wuchs zusammen zur Entdeckung, dass Samuel Barbers „Vanessa“ zu Unrecht im Spielplanschatten steht.