Foto: Kein Weg wird gescheut, um sich dem Objekt der Begierde zu nähern: Jochen Kupfer als (verkleideter) Giove und Julia Grüter als Calisto. © Ludwig Olah
Text:Dieter Stoll, am 24. November 2019
Auf der dicht beschriebenen Wandtafel, die ein ursprünglich mal Nymphe genanntes fleißiges Mädchen in Uniform mit Formeln vollgekritzelt hat, steht als aktuellste Botschaft der Musterschülerin ganz unten die Parole „Stop alla plastica!!“. In der Oper gibt es halt auch den Protest in der Originalsprache. Direkt dahinter liegt das Büro der Aufsichtsbehörde (Natur, Ewigkeit, Schicksal – drei Zausel mit Amtsbonus), die alle Visa-Stempel für den Weg zur wahren Tugend und einen großen Papierkorb für Ablehnungsbescheide verwaltet. Über dem Portal des Reform-Internats, dort wo man den Umweltschutz tanzt, ist dreifach die Aufforderung „Studiare!“ für die Ewigkeit gemeißelt.
Aber, wie wir von einem anderen Komponisten wissen, das Studium der Frauen ist schwer. In der Nürnberger Inszenierung von Francesco Cavallis venezianisch frühbarockem Dramma per musica „La Calisto“ übernimmt der scheinheilig zur pädagogischen Entwicklungshilfe angereiste Gott Jupiter alias Giove persönlich diese Aufgabe. Sind dem notgeilen Schwerenöter doch die Reize der jungen Dame mit Haltung aufgefallen, was er ihr mit Lob für strahlende Augen und Griff nach tiefer liegenden Körperteilen sogleich mitteilt. Aber, ach, das Mädel ist anders orientiert – nicht keusch wie die klassischen Vorfahren, sie steht auf ihre Direktorin, welche wiederum lieber den Hausmeister im Bett hätte. Das kann einen annähernd Allmächtigen und sowieso institutionalisierten Weltbeweger (Theologie: „Nie und nimmer verzichte ich auf mein Vergnügen“) nicht wirklich irritieren, er darf sich ja jederzeit in passend übergriffigen Partner-Look verwandeln. So nimmt die 350 Jahre alte Gender-Erotik sprunghaft ihren Lauf und der Bariton-Gott (als Luxus-Playboy im Rang des Oberschulrats mit qualmendem Sportwagen angereist) kann als umgepolte Falsett-Oberlehrerin (mit Busen und Perücke zur Kopfstimme) das Objekt der Begierde zur Vertiefung der Kommunikation einvernehmlich in die Duschkabine drängen. Jochen Kupfer beherrscht das Wechselspiel vokal wie visuell ziemlich gut, ohne dabei die herbeidrängenden Gedanken an Charleys Tante allzu weit abschweifen zu lassen. Schließlich ist, es muss mal deutlich gesagt werden, dieser Gott ein himmelschreiender Gauner – die im nächsten Benziner-Sportwagen mit Auspuff-Knall anreisende Ehefrau Juno wird es so lange bestätigen, bis sie ihn wieder eingefangen hat – und im aufgeklärten Klassenzimmer zirkuliert bereits der bitterliche Spruch: „Wer lügt, der siegt.“
Die Begeisterung heutiger Regisseure für die Wiedervorlage dieses doch eigentlich hochbetagten Werkes, vom Nürnberger Intendanten Jens-Daniel Herzog ausdrücklich geteilt, hat ihre Logik in geradezu grenzenloser Interpretationsfreiheit. Nicht Weihekunst, sondern Allzeitentertainment ist gefragt. Es ist überhaupt kein Problem, wenn die elastische Göttermetaphorik durchgereicht wird in die nicht sonderlich überzeugend beschriebene Pseudo-Gegenwart eines Greta-Gedächtnis-Gymnasiums. Bühnenbildner Mathis Neidhardt entwarf das Schulgelände (Klassenzimmer, Turnhalle, Direktionsbüro mit integrierter Verwitterung an allen Wänden), das jedem Kultusministerium als Argumentationshilfe für millionenschwere Sanierungsprogramme dienen könnte. Der Regisseur ist nicht zimperlich bei der Nutzung des Angebots und streut Gags wie Kamellen, ehe er seine besondere Aufmerksamkeit auf Sex & Crime lenkt. Wir sehen staunend eine Schulsekretärin mit Vorliebe für Taekwondo und Eierlikör, die obendrein „endlich richtig geknallt“ werden will (der Tenor Martin Platz stöckelt sicheren Schrittes durch Noten und Pointen), mehrere Mopeds mit Besatzung, einen Pizzaboten, missglückte Koitus-Gymnastik und bedauernswert fuchtelnde Furien. Die fließende Aufhebung der Geschlechtergrenzen, sanft hochgewirbelt im munteren Tausch der Stimmfächer zwischen Männern und Frauen, klinkt sich erkennbar vom Knalleffekt aus und in den Theatersog ein.
Musikalisch ist die Freiheit fast so groß wie der Spielraum der Szene. Spezial-Dirigent Wolfgang Katschner, schon in der vorigen Saison fürs Philharmoniker-Training an Händel zuständig, hat diskret eingegriffen. Das gegenüber dem knapper gehaltenen Original stark aufgerüstete 16-Köpfe-Ensemble, dessen überwiegend historische Instrumente den sonst auch für eine Wagner-Hundertschaft tauglichen Orchestergraben mühelos füllen, hat es mit einer Nürnberger Fassung zu tun, die Kürzungen bei Cavalli mit Ergänzungen durch Miniaturen seiner Zeitgenossen ausgleicht. Als Dirigent pflegt Katschner die Sicherheit gleichmäßig pumpender Rhythmik, die dem Sound bei aller erfreulichen Delikatesse auch dauerhaft ein deutliches Maß an elegischer Trägheit verpasst, was man mit gutem Willen als Poesie nehmen kann. Unter den Sängern im nicht immer ganz mühelosen Ensemble ist Sopranistin Julia Grüter in der Titelrolle schon ein Glanzlicht, ehe ihr der Über-Gott und Chef-Zyniker eine ewige Zukunft als Stern am Firmament, quasi den Platz an seinem Nachttisch, verspricht. Dass es zum Schluss eigentlich todtraurig wird, wenn die letzte Idealistin vom System genüsslich verdaut wird, ist offenbar kaum inszenierbar, weil diesem Gedanken weder Text noch Musik gewachsen sind. Regisseur Herzog ruckelt und zuckelt nochmal absichtsvoll am Finale herum und macht es dann dunkel. Finsteres Ende nach fröhlichem Spektakel, mehr geht nicht.