Foto: Ensemble aus Jörg Mannes „Alice im Wunderland“. © Gert Weigelt
Text:Jens Fischer, am 14. November 2011
Weihnachten droht sein Kommen wieder an. Theater räumen ihre Spielpläne frei für die familienfreundliche Unterhaltung. Zeit für die Staatsoper Hannover, wieder ein wenig Staub vom Humperdinck’schen Märchenoper-Realismus der „Hänsel und Gretel“-Inszenierung des Steffen Tiggeler zu pusten. Sie ist seit 47 Jahren fast immer ausverkauft und jetzt von der 3. Publikumsgeneration in Folge als Theaterinitiation zu erleben. Ironiefrei wird wieder die ästhetische Allianz mit dem Weihnachtsmarktbudenzauber gesucht. Formal aufgeräumter, aber ebenso verzauberungswillig gesellt sich dazu Jörg Mannes’ „Nussknacker und Mäusekönig“. Das scheint der Staatsoper nicht zu reichen. Mit seiner „Alice im Wunderland“-Choreografie erweitert Mannes jetzt das adventliche Repertoire. Oder hat er höhere Ansprüche? Was fängt man an mit der ja schon kaum ins Deutsche, ins Tänzerische gar nicht übersetzbaren, satirisch weltweisen Sprachspielerei des Lewis Carroll, mit der er in eine absolut fiktionale, surreale Welt hineinzieht?
Alice trippelt aus dem Hier und Jetzt des Staatsoper-Foyers auf die Bühne, hüpft durch den Vorhang – ins Theater-Wunderland, ihrem Tagtraum. Wo sie sich siebenfach wiederfindet, in Männer- und Frauen-Gestalt, aber immer im gleichen Krinoline-Design, das John Tenniels berühmten „Alice“-Illustrationen nachempfunden ist. Die Vervielfachung der Protagonisten ist ja eine Mannes-Manie. Jetzt ermöglicht sie der Alice, gleichzeitig passive und teilnehmende Beobachterin der Szenarien zu sein – sie kann zum Beispiel mit ihren Schatten tanzen und sich selbst dabei bestaunen. Oder taumeltanzend nach Halt (Identität?) suchen – und derweil mit Rhönradakrobatik vorüberrollen. Wenn aber lichtmalerisch das gischtwogende Tränenmeer auf dem Bühnenboden tobt (live ins Publikum übertragen per bühnenbreitem Spiegel-Ungetüm), wird klar, was der Abend sein will: heiteres Tiereraten. Die mit frei gefundenen Gesten und kleinen verfremdeten Alltagsbewegungen modern aufgebrochene, aber zutiefst neoklassische Bewegungssprache hat Jörg Mannes mit tierischen Motions-Ticks gespickt – um die animalischen Kreation des Lewis Carroll possierlich plastisch werden zu lassen. Der Tänzer mit Löffelohren, Puschelschwanz und angewinkelten Armen: ein Hase. Vorgeschoben die Nase, wackelnd der beschwänzte Pop: Maus. Ruckartige Kopfbewegungen und kriecherisches Schlängeln: Eidechse? Mit Luftballons grotesk ausstaffierte Kunst des Stolzierens: Flamingos. Strampelnde Tänzer, eingenäht in einen elastischen Tuchteppich: Raupe! Mit abgespreizten Fingern trippeln: Wir sind auf der Tea-Party!
Diese Auftritte wogen sehr schön auf den musikalischen Bewegungen. Mannes hat dazu eine Partitur aus Werken Erik Saties gebastelt, die ihm Stimmungen und Rhythmen zuspielt und um die aus Funk und TV-Werbung bekannten Gymnodédien und Gnossiennes kreist. Ideale Carroll-Musik! So wie sich Satie den kompositorischen Kriterien von Entwicklung, Spannung-Entspannung, Anfang-Ende verweigerte, gehorcht auch die mäandernde Erzählstruktur des Buches keiner konventionellen Dramaturgie, ignoriert Logik und Zweckmäßigkeit. Beide Künstler spielen filigran mit Formen von Dadaismus, Humor und Nonsens. Hinreißend geschmeidig interpretiert das Staatsorchester unter Toshiaki Murakami, treibt die in ihrer Ruhe verstörende Musik federleicht melancholisch jenseits von Raum und Zeit, befeuert dabei immer nuancen- und ausdrucksreich die Tanzgestik – und funktioniert auch als pubertärer Erweckungs-Soundtrack, animiert nämlich Grinsekatze und Alice zu einem durchaus erotischen Pas de deux – mit doktorspielerischem untern den Rock gucken, lustvollem Anpacken, Fallenlassen in die Arme des anderen. Zum Finale wirbelt das ganze Trieb-Getier um Alice herum, bedrängt sie, so dass das einzige, genau in diesem Moment gesprochene Worte des Abends, „Nein!“, als Ausdruck erwachter sexueller Selbstbestimmung, entwickeltem Widerspruchsgeist, gewachsenem Selbstbewusstsein zu deuten wäre. Denn so ängstlich Alice die Bühne betreten hat – so gelassen hüpft sie wieder herunter, entschwindet ins Pausenfoyer. Das zögerliche Kind zur entschlossenen Frau gereift?
Aber das ist sicherlich schon zu viel der Interpretation. Jörg Mannes’ „Alice“ ist kein Handlungsballett, das Entwicklungen nachvollzieht, sondern eine Choreografie, die auf assoziatives Bebildern statt auf geradliniges Erzählen setzt: Bekannte Stationen sind abzuhaken und mit hohem Putzigkeitswillen zu gestalten. Was mit der schillernden Kostümfantasie (Alexandra Pitz) allerdings noch besser gelingt. Szenenapplaus gab es für die Videoprojektionen – beispielsweise die Bühnenbildillusion einer Buchstabennudelsuppe, durch die Alice ihre Tanzbahnen zieht. So geschmackvoll, so luftig-duftig-lustig-elegant lässt sich manch trüber Winterabend aufhellen. Bedürfnisse und Erwartungen eines weihnachtsmärchenwilligen Ballett-Publikums schienen jedenfalls ausreichend befriedigt. Jubel!