Diese Auftritte wogen sehr schön auf den musikalischen Bewegungen. Mannes hat dazu eine Partitur aus Werken Erik Saties gebastelt, die ihm Stimmungen und Rhythmen zuspielt und um die aus Funk und TV-Werbung bekannten Gymnodédien und Gnossiennes kreist. Ideale Carroll-Musik! So wie sich Satie den kompositorischen Kriterien von Entwicklung, Spannung-Entspannung, Anfang-Ende verweigerte, gehorcht auch die mäandernde Erzählstruktur des Buches keiner konventionellen Dramaturgie, ignoriert Logik und Zweckmäßigkeit. Beide Künstler spielen filigran mit Formen von Dadaismus, Humor und Nonsens. Hinreißend geschmeidig interpretiert das Staatsorchester unter Toshiaki Murakami, treibt die in ihrer Ruhe verstörende Musik federleicht melancholisch jenseits von Raum und Zeit, befeuert dabei immer nuancen- und ausdrucksreich die Tanzgestik – und funktioniert auch als pubertärer Erweckungs-Soundtrack, animiert nämlich Grinsekatze und Alice zu einem durchaus erotischen Pas de deux – mit doktorspielerischem untern den Rock gucken, lustvollem Anpacken, Fallenlassen in die Arme des anderen. Zum Finale wirbelt das ganze Trieb-Getier um Alice herum, bedrängt sie, so dass das einzige, genau in diesem Moment gesprochene Worte des Abends, „Nein!“, als Ausdruck erwachter sexueller Selbstbestimmung, entwickeltem Widerspruchsgeist, gewachsenem Selbstbewusstsein zu deuten wäre. Denn so ängstlich Alice die Bühne betreten hat – so gelassen hüpft sie wieder herunter, entschwindet ins Pausenfoyer. Das zögerliche Kind zur entschlossenen Frau gereift?
Aber das ist sicherlich schon zu viel der Interpretation. Jörg Mannes’ „Alice“ ist kein Handlungsballett, das Entwicklungen nachvollzieht, sondern eine Choreografie, die auf assoziatives Bebildern statt auf geradliniges Erzählen setzt: Bekannte Stationen sind abzuhaken und mit hohem Putzigkeitswillen zu gestalten. Was mit der schillernden Kostümfantasie (Alexandra Pitz) allerdings noch besser gelingt. Szenenapplaus gab es für die Videoprojektionen – beispielsweise die Bühnenbildillusion einer Buchstabennudelsuppe, durch die Alice ihre Tanzbahnen zieht. So geschmackvoll, so luftig-duftig-lustig-elegant lässt sich manch trüber Winterabend aufhellen. Bedürfnisse und Erwartungen eines weihnachtsmärchenwilligen Ballett-Publikums schienen jedenfalls ausreichend befriedigt. Jubel!