Foto: Das "Bookpink"-Ensemble am Schauspielhaus Graz © Stella
Text:Florian Welle, am 22. Mai 2020
Vögel stehen landläufig für Freiheit. Der Mensch blickt zum Himmel und sieht ihren Flugkunststücken zu oder schaut ihnen hinterher, wie sie in die Ferne ziehen. Die Vögel in Caren Jeßʼ Stück „Bookpink“ hingegen sind alles andere als frei. Sie sind Gefangene. Mal ganz real wie die Flamingos, die die Rabenmutter ihrem Sohn zum Spielen gegeben hat, damit sie sich ungestört betrinken kann. Mal im übertragenen Sinne wie die eitle Pute, die in ihrer eigenen Esoterik-Welt lebt. Ratschläge von außen dringen nicht mehr zu ihr vor. Und mal sind sie schlicht in Lebensumständen gefangen, aus denen es nur ein Entrinnen gibt, wenn man sich fortträumt. Wie die weiße Taube, die auf einem Campingplatz haust und sich nach Händel, Vivaldi, Bach, kurz nach einem barocken Leben voller Musik und Schönheit, sehnt. Wer hingegen wirklich ausbricht, wie die Sumpfmeise Veroniko, die eines Tages beschließt, sich ihre „dürren Beine“ nicht mehr zu rasieren und „am gegenüberliegenden Gestade“ ihr Glück zu suchen, geht im wahrsten Sinne unter.
Mit „Bookpink“ (plattdeutsch für Buchfink) der Dramatikerin Caren Jeß ist die Fabel auf die Theaterbühne zurückgekehrt. Denn natürlich spiegeln sich in den Vögeln, die in dem „dramatischen Kompendium“ herumhüpfen – so der Untertitel des Stückes, das unter anderem 2018 den Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik (inklusive dreimonatiger Residenz) erhalten hat und aktuell bei den 45. Mülheimer Theatertagen nominiert ist –, Menschen in gefiedertem Gewand. In der Fabel werden seit jeher menschliche Lebensumstände reflektiert. Gleichzeitig hat die Gattung auch immer etwas Didaktisches. Ihre Autoren seit dem antiken Dichter Äsop wollen Lebensweisheit vermitteln, moralisch wirken. Das reflexive Element ist bei Jeß noch stark ausgeprägt, Didaktik oder gar eine Moral sucht man bei ihr jedoch vergebens. Die insgesamt sieben Episoden des „Kompendiums“, in dem der Bookpink nur eine Randfigur ist und die zu ganz unterschiedlichen (Jahres-)Zeiten spielen, enden offen mit Sätzen von lapidarem Humor oder geradezu berückend poetischem Glanz. So heißt es in der Geschichte, in der sich ein gottgleich verehrter Bussard in eine Betonhalle zurückgezogen hat und auf die Fragen, die die Singvögel an ihn herantragen, nur mit Schweigen antwortet, schlicht: „Bussard steht auf… Bussard legt ein Ei.“ Und der Schlusssatz, den Jeß der weißen Taube in den Schnabel gelegt hat, lautet: „Vom Barock träume ich im Winter nie.“
Caren Jeß stellt in ihrem Stück eine Vielzahl an Themen zur Debatte: von der Frage nach Chancengerechtigkeit vor dem Hintergrund dysfunktionaler Familienkonstellationen über Identitätsfindung und Geschlechtervielfalt bis hin zu Einsamkeit und der daraus resultierenden Flucht in gefährliche Parallelwelten, in denen die Vernunft auf der Strecke bleibt. Sätze, wie sie die Esoterik-Pute spricht, gewinnen angesichts der Stimmen von Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern bei den Corona-Demonstrationen erschreckende Aktualität: „Was euch die Ärzte sagen, das sagen sie nicht, um euch zu helfen. Sie wollen euch manipulieren, oder sie sind selbst manipuliert und verbreiten weiter, was ihnen eingeimpft wurde. Lasst uns aber als Einheit stark sein gegen alles, was uns schaden will!“
Die Stärke von Jeßʼ Stück sind die fließenden Übergänge von inhaltlichem Tiefgang zu spielerischem Humor. „Bookpink“ besitzt etwas Federleichtes. Genau mit dieser Leichtigkeit hat es auch die junge Regisseurin Anja Michaela Wohlfahrt im vergangenen Herbst auf der Studiobühne des Grazer Schauspielhauses zur Uraufführung gebracht, zu sehen auf einem Mitschnitt, der nun auf dem Youtube-Kanal des Theaters zur Verfügung steht. Kathrin Eingang hat für die fünf Schauspieler Kostüme angefertigt, die mit klug geschneiderten Kleidungsstücken und wenigen Accessoires wie Mütze, Schmuck oder Ballettschuhen das Äußere der Vögel so andeuten, dass die Menschen darunter umso deutlicher sichtbar werden. Ebenso minimalistisch und stimmig ist die Bühne von Philipp Glanzner. Lediglich ein paar Kisten stehen für Vogelnester, in denen die Schauspieler hocken. Zwischen den Episoden wird zu groovigem Sound umgebaut. Danach können die Kisten schon mal hochkant aufgerichtet sein und einen Käfig symbolisieren.
Maximiliane Haß, Frieder Langenberger, Mathias Lodd, Clemens Maria Riegler und Anna Szandtner schlüpfen in ständigem Wechsel mal in diese, mal in jene Vogelrolle. So gibt Maximiliane Haß gerade noch den schwer frustrierten Dreckspfau mit verklebten „Schmodder“-Flügeln und die nicht minder aggressive Rabenmutter, um kurz danach als hilflos-verschüchtertes Hühnchen auf der Bühne zu erscheinen. Genauso wandlungsfähig die anderen Schauspieler, denen lediglich bei all ihrer mitreißenden Spielfreude zwischendurch ein bisschen mehr Zurückhaltung gut getan hätte. Etwas weniger aufgeregtes Gezwitscher, dafür mehr leiser Gesang hätte die Wirkung dieser insgesamt stimmigen Inszenierung noch verstärken können.