Foto: Szene aus "Machtspiele" in Braunschweig © Thomas M. Jauk
Text:Sören Ingwersen, am 29. Oktober 2018
Der Junge scheint ins Bodenlose zu stürzen. Rücklings auf einem Rollbrett kreisend, wird er von der Projektion auf den Bühnenboden geradezu aufgesogen: Steile Gebirgsabhänge rasen auf die erhöht sitzenden Zuschauer im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig zu. Ein starker Effekt, der das ambitionierte Thema unterstreicht, wenn die Sparten Junges Theater, Musiktheater und Schauspiel in einem gemeinsamen Opernabend die Mechanismen der Macht aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Unter dem Titel „Machtspiele“ fasst Regisseur Christoph Diem drei Einakter des 20. Jahrhunderts zusammen.
1930 komponierte Kurt Weill die Schuloper „Der Jasager“ auf einen Text von Bertolt Brecht: eine Parabel auf die Autorität ungeschriebener Gesetze, wie sie in Brauchtum und Traditionen verankert sind. Regisseur Christoph Diem macht das Zuschauerparkett zur Spiel- und Projektionsfläche, Orchester und Chor sitzen auf der Bühne. Bühnenarbeiter stellen eine Tür auf, reichen Stühle, Getränke und weitere Requisiten, während Maximilian Krummen als Lehrer und Anat Edri als Mutter sich über den Sohn beraten: Theater nicht als Illusionsmaschine, sondern als hinterfragbare Behauptung – ganz im Sinne von Brechts Konzeption des epischen Dramas. In der Rolle des Knaben zeigt der etwa zehnjährige Moritz Gildner Mut – als überzeugender Sängerdarsteller und als Sohn, der sich trotz aller Warnungen entschließt, einen gefährlichen Gebirgspass zu überwinden, um seiner schwerkranken Mutter Medizin zu besorgen. Als seine Kräfte ihn verlassen und er das Fortkommen der reisenden Studentengruppe behindert, wird er – so will es der Brauch – mit eigener Zustimmung ins Tal geworfen. Die Ideologie verlangt Gehorsamkeit und Selbstopfer, was Matthias Stier, Michael Pflumm und Jisang Ryu als testosteronbetontes A-cappella-Trio der Studenten so unerbittlich einfordern, dass man kaum zu Atmen wagt. Der einfallende Chor ist als strenger Kommentator in seinen Worten ebenso klar, wie in seiner stimmlich-sprachlichen Artikulation, wobei Dirigent Alexis Agrafiotis aus seinem Orchester die wechselnden Dynamiken und reizvollen Klangfarben von Weills Partitur sinnfällig heraus kitzelt.
Auf der Klaviatur der Dynamik und Klangfarben weiß auch die monologisierende Saskia Petzold virtuos zu spielen, wenn sie in Mauricio Kagel nahtlos anschließendem Musiktheater „Der Tribun“ einen selbstverliebten Despoten von seiner entlarvend privaten Seite zeigt: An einem mächtigen Schreibtisch probt der Herrscher im drachengeschmückten Kimono seine bevorstehende Staatsrede. Herrlich, mit welcher Mischung aus träger Lustlosigkeit und erzwungenem Pathos sich Petzold dabei von Worthülse zu Worthülse hangelt, wie ein lernschwacher Pennäler um Formulierungen ringt und per Knopfdruck den Jubel des Volkes abfordert, während Agrafiotis seitlich sitzend als dirigierender Sekretär für eine rhythmisch genaue Verzahnung des gesprochenen Wortes mit den parodistischen Märschen sorgt, mit denen Kagel das Groteske seiner Figur unterstreicht.
Ernstere Töne schlägt dagegen Ernst Kreneks „Der Diktator“ an. Hier bestärkt Anat Edri den Entschluss ihrer Maria mit sopranösem Furor, den Herrscher zu töten, dessen grausame Kriegstaktik ihrem Verlobten das Augenlicht raubte. Wo eben noch Michael Pflumm als erblindeter Offizier auf dem Boden bzw. Bett des projizierten Krankenzimmers lag, treten nun auf einem ebenfalls nur aus Licht bestehenden Perserteppich Maximilian Krummen als skrupelloser Titelheld, Jelena Bonkovic als seine Frau und Anat Edris Maria als stimmstarkes Trio mit Rache-, Liebes- und Eifersuchtsgefühlen gegeneinander an. Sind rein persönliche Empfindungen und Motivationen ausreichend, um gegen einen Tyrannen aufzubegehren? Mit dieser Frage stellt Krenek 1927 auch das romantische Ideal infrage, mit dem er musikalisch durchaus noch liebäugelt.
Am Ende färbt sich der Teppich rot. Die Kugel trifft die Falsche, aber dieser ambitionierte, kurzweilige Musiktheaterabend voll ins Schwarze. Mit sparsamen theatralischen Mitteln, einer erlesenen Riege von Musikern und Sängerdarstellern, die sich spielerisch zum Teil noch mehr hätten trauen können, sowie einer klugen Verknüpfung dreier eher selten aufgeführter Klassiker des modernen Repertoires führen uns Christopher Diem und sein Ensemble ebenso eindringlich wie humorvoll vor Auge und Ohr, worauf es in Zeiten selbstherrlicher Autokraten und feindbildspinnender Nationalisten ankommt: eine Haltung zu haben und diese auch zu zeigen. Das Staatstheater Braunschweig hat seine mit dieser sehr gelungenen, spartenübergreifenden Produktion bereits unter Beweis gestellt.