Foto: Blau, soweit das Auge reicht. Julia Wieninger, Ute Hannig, Paul Herwig, Yorck Dippe in "Bluets" © Stephen Cummiskey
Text:Michael Laages, am 16. März 2019
Das Experiment beginnt ganz banal. Wer hätte schon keine „Lieblingsfarbe“? Der Ich-Erzählerin in „Bluets“, dem im Original bereits vor zehn Jahren veröffentlichten, aber erst kürzlich auf Deutsch erschienen Buch der Amerikanerin Maggie Nelson, ist aber mehr passiert: Sie hat sich in eine Farbe „verliebt“. Ins Blau.
Und die Farbpassion fällt womöglich auch darum so überaus heftig und obsessiv aus, weil sie gekoppelt ist an eine komplizierte Liebe – das „Ich“ der Autorin ist vor einiger Zeit verlassen worden, die Frau will den Mann zurückhaben; und an alles, was ihn betrifft, speziell an den Sex mit ihm, erinnert sie sich mindestens genau so intensiv wie an unterschiedlichste Erfahrungen, die sie mit der geliebten Farbe hatte – und quasi minutiös, Blau um Blau und Satz für Satz, begann sie sie zu sammeln im Angesicht des Verlusts; detailvernarrt wie eine Archivarin im Museum der blauen Dinge.
„Satz für Satz“ ist beinahe wörtlich zu nehmen. Denn Maggie Nelson hat alles, all die Archivalien, Gedanken und Sehnsüchte, all die teilweise sehr rudimentären, aber schlaglichtartig wiedererkennbaren Handlungsstränge, ordnungsgemäß nummeriert in Mini-Kapiteln; für die Theaterfassung, die jetzt im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg zu sehen ist, haben Regisseurin Katie Mitchell und Dramaturgin Sybille Meier das Konvolut teilweise neu beziffert: in 129 Statements. Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler sitzen an Lesetischen – und erfinden Theater. Schon das sanfte „Ping“ elektronischer Glöckchen, die die Pausen zwischen den 129 Momenten markieren, ist Bauteil dieser Laboranordnung.
Und die ist denn auch das eigentliche Ereignis dieses Abends im Theater. Katie Mitchell, bewährt im Umgang auch und gerade mit Texten, die zunächst überhaupt nicht nach „Theater“ aussehen, lässt die vier Figuren mit Nelsons Text (und unendlich viel Videomaterial mehr oder minder in Blau aus der Werkstatt von Marcel Didolff) einen unerhört detailreichen Spiel-, Blick- und Klangraum kreieren. Während Julia Wieninger (immer wieder Mitchells bevorzugte Protagonistin in Hamburg!) ganz bei den Ich-Texten bleibt, fügen sich Ute Hannig, Paul Herwig und Yorck Dippe in die Rollen, die in anderen Produktionen der englischen Regisseurin die technischen Gewerke übernehmen – das Ensemble positioniert die Videokameras und richtet sie ein für den richtigen Moment; Wasserbehälter und andere Laboreinrichtungen werden vorbereitet für den Augenblick, in denen sie zum Einsatz kommen, das heißt: auf der Videowand hinter der Spielebene zu sehen sind. Eine „technische Choreographie“ liegt den 100 Spielminuten zu Grunde, die auch die oben links und rechts im Malersaal sitzenden Kolleginnen und Kollegen von Licht- und Tonregie einbezieht, die die live erzeugten Bilder und Klänge mit den vorbereiteten aus den Konserven koordinieren. Dieser vielköpfige Apparat funktioniert enorm eindrucksvoll.
Und wer speziell diese vier Ensemble-Mitglieder ein wenig kennt, der weiß auch um deren musikalisches Talent – Paul Herwig und Yorck Dippe sind profunde Musikanten, Herwig an Klavier und Gitarre, Dippe zusätzlich am Saxophon; und wie Ute Hannig und Julia Wieninger singen beide auch außergewöhnlich gut. So kann Mitchell auch auf die musikalischen „Blue“-Momente setzen: mit Songs von Joni Mitchell oder Billie Holiday. Leider folgt die Regisseurin (wie die Autorin) nicht der spannenden Frage, warum eigentlich der „Blues“ so heißt, und wo die „blue notes“ im Jazz eigentlich herkommen.
Bild, Musik, Klang, Text… aus allem entsteht tatsächlich eine Art Strom oder Sog. Die Details sind winzig – so wedelt Dippe mal mit dem Jackenaufschlag, um irgendetwas im Wind flattern zu lassen. Und viele Blau-Momente sind im Vorbeifahren entstanden – etwa die blauen Ringe am Fernsehturm in Hannover, von Bahnsteig 8 aus gefilmt. Alles, was an Maggie Nelsons blauen Episoden tendenziell nicht nach Theater aussieht und auch nicht in irgendeine Form von erzählender Dramaturgie passen will, gerät schnell in diesen Strudel – auch wenn Mitchells Methode relativ bald erkennbar und also durchschaubar zu werden beginnt. Macht nichts: Bis zum Schluss birgt sie genug Überraschungen optisch-akustisch-gedanklicher Art, dass das Ergebnis des blauen Laborversuchs offenbleibt. Erst einer der letzten „Sätze“ offenbart, dass die Liebende das ganze Museum in Blau auch hätte aufgeben können, wenn nur der Geliebte zurückgekommen wäre.
Katie Mitchell erzählt in Hamburg eine verzweifelt-unerfüllte Liebesgeschichte – und dass sie so gar nicht danach aussieht, ist vermutlich das Wichtigste.