Foto: Orest/George (Sebastian Grünewald) vor mattem Gericht © Vincenzo Laera
Text:Detlev Baur, am 2. Oktober 2020
„Ich will nicht mehr spielen. Ich bin nicht schuldig.“ Am Ende plädiert der mit Theaterblut verschmierte Orest (Sebastian Grünewald) vor der desinteressierten Jury auf Freispruch, den er von Athene erhält, die zuvor als Chorfigur und Hygienebeauftrage tätig war (Sarah Franke). Thorleifur Örn Arnarssons „Orestie“ an der Volksbühne ist vielgestaltig und beziehungsreich und dabei Anzeichen einer fundamentalen Krise von Gesellschaft und Theater.
Den Anfang der gut zweistündigen Inszenierung macht die Drehbühne mit einem leeren Zuschauerhalbrund voller Plastikstühle, mit einem Flügel in der Bühnenmitte, zwei Klavieren am Rand und unter der Zuschauertribüne mit engen Wohn- oder Arbeitsräumen (Bühne: Ann-Christine Müller). Dann hebt sich die Mitte unter dem Flügel und eine enge Mittelklasse-Wohnung erscheint. Hier spielt ein Ehepaar ein quälendes Spiel um gegenseitige Anziehung und Abstoßung. Sebastian Grünewald (als George) und Sólveig Arnarsdóttir (als Martha) aus Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ bremsen sich hässlich und voll Zuneigung aus und warten vergeblich auf Gäste. „Was für ein tristes Loch!“ zitiert sie einen Film und beschreibt da halb absichtlich, halb unbewusst ihr Badezimmer, aber auch das folgende Spiel. In den folgenden knapp zwei Stunden verschwindet die Streitwohnung bis zur Gerichtsszene, bleibt aber über Bildschirme am Bühnenrand präsent. Martha und George streiten da weiter, immer neue farbige Drinks, später direkt farbige Flüssigkeiten verschüttet der zunächst so zurückhaltende Gatte über seine Mitspielerin. Sie will nicht mehr spielen, aber immer wieder spitzt sich der Ehekrieg zu, bis sie am Ende gar nicht mehr aus der Badewanne steigt.
Während in Albees genialem Psychodrama nur ein imaginäres Kind getötet wird, stirbt in der Vorgeschichte der „Orestie“ die Tochter Iphigenie durch die Hand des Vaters, dann er durch die Frau und schließlich diese durch Tochter und Sohn. In den letzten Jahren konzentrieren sich Inszenierungen der Tragödien-Trilogie häufig auf den Konflikt zwischen Klytaimestra und Agamemnon, steht das Familiendrama im Vordergrund. Bedingt auch in dieser Volksbühnen-Inszenierung, wenn George als ödipaler Orest seine Frau und Mutter getötet hat. Klytaimestra (Johanna Bantzer) und Agamemnon (Daniel Nerlich) verhandeln andererseits relativ öffentlich über die rechte Art der Begrüßung, verknüpfen den Ehekrieg mit einer öffentlichen Krise. Arnarsson schafft ungeheuer vielfältige Assoziationspunkte, was so anregend wie beinahe beliebig wirkt – in den Filmszenen aus dem „Ehe-Keller“ ist auf einem Bildschirm wiederum ein Live-Bild der Gesamtbühne zu sehen.
Er bespielt eine große Dreh- und Hub-Bühne, lässt den Countertenor Hubert Wild elegisches Kunstlied bis zu Strauß‘ „Elektra“ dazwischen singen oder (teils gleichzeitig) Sarah Maria Sander als Elektra am Flügel zwischen Chopin und Queens „Mama“ changieren, auch Sir Henry, Gabriel Cazes und Jan Jordan schaffen pianistische Rahmungen. Da bleibt das eigentliche Drama sehr behauptet und undifferenziert, Agamemnon ist ein jämmerlicher Tropf und gescheiterter Dandy, der es nicht schafft, den Flügel zu erklimmen. Das wirkt so slapstickartig-lustig wie isoliert. Ähnlich beliebig im Ganzen sind der schwangeren Sylvana Seddigs Todesbericht als Iphigenie oder Katja Gaudards Gespräch mit Sarah Frankes Chorfigur. Kassandra gibt sich ratlos, Elektra am Piano ist sprachlos. Und fast alle, vorneweg Klytaimestra, drehen sich um „Ich, ich, ich“. Eine Familiengeschichte findet nicht mehr statt, ein klarer Fall für einen Prozess liegt nicht vor. Und ganz am Schluss tapert eine Trump-Gestalt über die Bühne.
Doch auch das Spiel um die Polis und die Gemeinschaft im pandemiebedingt ausgedünnten Parkett ist ein Solo. Sarah Franke eröffnet das Spiel nach der Eheschlacht von George und Martha, klebt Abstände auf den Boden, berichtet von einer Konzeptionsprobe auf Island, von Sorgenfreiheit durch ihre Tätigkeit als Hygienebeauftragte der Inszenierung und wartet als Wächter auf Nachricht aus Troja. Im silbernen Glitzerkostüm fungiert sie überzeugend als zentrale Gestalt der Show. Doch kann Sie am Ende die zur Jury verdonnerten Musiker und Spieler nicht wirklich für einen Urteilsspruch animieren. Wie soll sich aber das Publikum hier auskennen und Interesse an den Figuren entwickeln? Und ist es, wie bei der Figur George-Orest nahegelegt, wirklich das zentrale Problem der Tragödien in der Gesellschaft früher und heute, dass das Verhältnis von Spiel und Recht gestört ist?
Fast scheint in dieser „Orestie“ eine Corona-beschleunigte zweite Postmoderne zu besichtigen. Die von der einsamen Choristin erhoffte Katharsis kann es in diesem geschickt inszenierten, inhaltlich aber vagen Zuviel nicht geben.