Foto: Edgar Selge in Olaf Altmanns Bühnenkreuz © Klaus Lefebvre
Text:Detlev Baur, am 6. Februar 2016
Der Roman „Unterwerfung“ von Michel Houllebecq erschien im letzten Jahr zeitgleich mit dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Auch ein Freund des Autors war unter den Getöteten. Die Hauptfigur in „Unterwerfung“ ist ein Pariser Literaturwissenschaftler, dessen Leben außer der Nähe zu seinem lebenslangen Studienobjekt, dem Werk des Dichters Joris-Karl Huysmans wenig zu bieten hat. Eine Affäre pro Semester, alkoholische Getränke, Fernsehen und Fertigessen. Houllebecq beschreibt einen Einzelgänger, der im Jahr 2022 bürgerkriegsähnliche Zustände in Frankreich erlebt und kurzzeitig aufs Land entflieht. Schon zu Beginn deutet sich an, dass gemäßigt muslimische Kräfte an der Universität an Einfluss gewinnen; Frankreich erlebt den finalen Machtkampf zwischen rechtsextremer Front National, den abgehalfterten etablierten Parteien und der geschickten „Bruderschaft der Muslime“. Nach Tagen der Verwirrung und Gewalt wird zum ersten Mal ein Muslim Präsident Frankreichs. Frauen verschwinden aus der Universität und nach kurzem Zögern scheint die so kluge wie feige Hauptfigur zum Islam zu konvertieren, damit er weiter unterrichten kann und einem Leben mit bis zu drei Ehefrauen entgegensehen kann. „Ich hätte nichts zu bereuen.“
Ob nun ein Bürgerkrieg und die Machtübernahme durch einen bekennenden Moslem wirklich die Zukunft Frankreichs werden, ist offen und ist vielleicht gar nicht zentral; in der schonungslosen Beschreibung der angsterfüllten, trägen Gesellschaft ist der Roman jedoch zweifellos großer Wurf und wagt sich mit der Benennung von unglaublichen Tabubrüchen weit über besänftigende Schönrednerei der gegenwärtigen epochalen Umbrüche hinaus. Die Ereignisse im letzten Jahr über die Attentate im November bis hin zu den frauenverachtenden Kölner Gewalttaten an Sylvester haben „Unterwerfung“ noch mehr Brisanz verliehen. Da durfte man nur ein Jahr nach Erscheinen des Romans auf die erste Bühnenumsetzung am Deutschen Schauspielhaus gespannt sein. Karin Beiers Beschränkung auf einen Darsteller schien angesichts der autistischen Tendenzen des Helden ebenso einleuchtend wie ob der Klugheit, Sensibilität und Zähigkeit des Schauspielers Edgar Selge folgerichtig.
Olaf Altmann hat für den fast dreistündigen Soloabend in Deutschlands größtem Schauspielhaus eine hohe schwarze Wand gebaut. In einer großen darin eingelassenen Drehscheibe ist durch Aussparungen ein großes Kreuz eingelassen, dass nicht nur ein starkes Symbol für das alte Europa und menschliches Leiden ist, sondern Selge auch Gelegenheit zum Klettern und Verharren in eingezwängten Positionen bietet. Doch vor allem hat Selge viel zu erzählen: ein wenig über den Autor Houllebecq, dann über die Hauptfigur François und ihren zentralen Lebenspartner, den verstorbenen Dichter Huysmans, und nach und nach schlüpft er auch kurzzeitig in die Rolle der Gesprächspartner(innen) der Hauptfigur. Selge zeigt sich kontaktfreudig gegenüber den Zuhörern und lässt nur wenige Abschnitte aus dem Roman gänzlich aus – die Rolle der Literatur bleibt blass, dabei handelt es sich in „Unterwerfung“ eigentlich um ausgesprochen literarische Bekenntnisse. Bei aller Sprechkunst bleibt die Inszenierung vor allem vor der Pause eine gespielte Lesung, voller amüsant-verzweifelter Offenbarungen eines seltsam gesprächigen Einzelgängers und traurig-komischen Frauenmissverstehers. Seine Kommentare zur politischen Katastrophe wirken dabei im Vergleich mit dem Buch fast putzig kabarettistisch. Insgesamt scheint die Textfassung von Karin Beier und Rita Thiele zwar eine Kürzung, nicht aber eine Konzentration des Buchs zu ergeben.
Im zweiten Teil gewinnt das Spiel dann an Überzeugungskraft; die Umstände sind weitgehend erklärt, nun kann sich der Alleinunterhalter ganz auf die selbstmitleidige Selbstbeschau konzentrieren. Und das zeigt Selge grandios, voll Einfühlung und gleichzeitiger Distanz zum Helden. François schmiert sich von Ausschlägen am Fuß geplagt weiße und etwas rote Farbe ins Gesicht, wird im Kreuz eingezwängt zum sympathischen und erschreckend naiven Clown einer untergehenden Gesellschaft. Dass dieser Mensch „unglücklich und allein“ ist, wird überzeugend deutlich. Am Ende gelingt die Inszenierung als Psychogramm also voll und ganz.
Und bei den abschätzigen Überlegungen des neuen Universitätsleiters zum menschelnden Christentum samt seinem gekreuzigten Erlöser, geht auch die wuchtige Bildersprache mit einem abgekämpften Menschen im Kreuz voll auf. Schließlich verschwindet das Symbol des Abendlandes mit der Wand, drei verschleierte Damen räumen die Bühne auf für den lächerlichen Optimisten, der sich luftige Kleider für sein neues Leben im islamischen Gewand anlegt. Diese Bilder könnten ein Anfang sein.
Insgesamt ist das Ergebnis ein großer Schauspielerabend, zu sehen ist ein gewagtes kunstvolles Theatersolo. Als Romanadaption überzeugt diese Hamburger Inszenierung aber nur bedingt. Und eine Positionierung angesichts epochaler Umbrüche vermeidet diese „Unterwerfung“, als kritischer Debattenbeitrag ist sie weitgehend eine Fehlanzeige. Dem Fadenkreuz der Konflikte weicht sie aus.