Olaf Altmann hat für den fast dreistündigen Soloabend in Deutschlands größtem Schauspielhaus eine hohe schwarze Wand gebaut. In einer großen darin eingelassenen Drehscheibe ist durch Aussparungen ein großes Kreuz eingelassen, dass nicht nur ein starkes Symbol für das alte Europa und menschliches Leiden ist, sondern Selge auch Gelegenheit zum Klettern und Verharren in eingezwängten Positionen bietet. Doch vor allem hat Selge viel zu erzählen: ein wenig über den Autor Houllebecq, dann über die Hauptfigur François und ihren zentralen Lebenspartner, den verstorbenen Dichter Huysmans, und nach und nach schlüpft er auch kurzzeitig in die Rolle der Gesprächspartner(innen) der Hauptfigur. Selge zeigt sich kontaktfreudig gegenüber den Zuhörern und lässt nur wenige Abschnitte aus dem Roman gänzlich aus – die Rolle der Literatur bleibt blass, dabei handelt es sich in „Unterwerfung“ eigentlich um ausgesprochen literarische Bekenntnisse. Bei aller Sprechkunst bleibt die Inszenierung vor allem vor der Pause eine gespielte Lesung, voller amüsant-verzweifelter Offenbarungen eines seltsam gesprächigen Einzelgängers und traurig-komischen Frauenmissverstehers. Seine Kommentare zur politischen Katastrophe wirken dabei im Vergleich mit dem Buch fast putzig kabarettistisch. Insgesamt scheint die Textfassung von Karin Beier und Rita Thiele zwar eine Kürzung, nicht aber eine Konzentration des Buchs zu ergeben.
Im zweiten Teil gewinnt das Spiel dann an Überzeugungskraft; die Umstände sind weitgehend erklärt, nun kann sich der Alleinunterhalter ganz auf die selbstmitleidige Selbstbeschau konzentrieren. Und das zeigt Selge grandios, voll Einfühlung und gleichzeitiger Distanz zum Helden. François schmiert sich von Ausschlägen am Fuß geplagt weiße und etwas rote Farbe ins Gesicht, wird im Kreuz eingezwängt zum sympathischen und erschreckend naiven Clown einer untergehenden Gesellschaft. Dass dieser Mensch „unglücklich und allein“ ist, wird überzeugend deutlich. Am Ende gelingt die Inszenierung als Psychogramm also voll und ganz.
Und bei den abschätzigen Überlegungen des neuen Universitätsleiters zum menschelnden Christentum samt seinem gekreuzigten Erlöser, geht auch die wuchtige Bildersprache mit einem abgekämpften Menschen im Kreuz voll auf. Schließlich verschwindet das Symbol des Abendlandes mit der Wand, drei verschleierte Damen räumen die Bühne auf für den lächerlichen Optimisten, der sich luftige Kleider für sein neues Leben im islamischen Gewand anlegt. Diese Bilder könnten ein Anfang sein.
Insgesamt ist das Ergebnis ein großer Schauspielerabend, zu sehen ist ein gewagtes kunstvolles Theatersolo. Als Romanadaption überzeugt diese Hamburger Inszenierung aber nur bedingt. Und eine Positionierung angesichts epochaler Umbrüche vermeidet diese „Unterwerfung“, als kritischer Debattenbeitrag ist sie weitgehend eine Fehlanzeige. Dem Fadenkreuz der Konflikte weicht sie aus.