Foto: Tamara Banjesevic als Amenaide © Hans Jörg Michel
Text:Karl Geog Berg, am 4. Dezember 2015
Es ist schon eine erstaunliche Oper, Rossinis „Tancredi“, 1813 zu einer Zeit uraufgeführt, da der Komponist noch keine 21 Jahre alt war. Sicher, der junge „Schwan von Pesaro“ folgt im Prinzip den formalen Mustern der Opera seria, doch er schreibt hier beileibe nicht nur schöne Melodien und brillante Koloraturen, sondern erreicht in diesem Werk einen faszinierend hohen Grad an melodramatischer Intensität. Nicht umsonst begründete Rossini mit dieser Oper seinen Ruhm als Komponist (auch) ernster Opern. Die Wirkung des „Tancredi“ war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein enorm – und in der Tat haben erst Verdis Bühnenwerke nach der Jahrhundertmitte in der italienischen Oper neue Maßstäbe gesetzt.
Lange sträflicher Weise fast völlig vernachlässigt, sind Rossinis Seria-Opern noch immer eher sporadische Gäste in den Spielplänen unserer Opernhäuser. Umso erfreulicher, dass das Nationaltheater Mannheim nun den „Tancredi“ aufs Programm gesetzt hat.
Erfreulich auch, dass der tragische Schluss aus der Fassung für Ferrara gewählt wurde, bei dem der Titelheld nicht überlebt und sterbend erkennen muss, dass er seiner geliebten Amenaide zu Unrecht misstraut hat. Das von Rossini dafür komponierte Rezitativ ist von berührender Direktheit und gemahnt mit seinen stockenden Tönen fast schon an die sterbende Mimi bei Puccini über 90 Jahre später.
Gemäß dem Brauch der Rossini-Zeit wurde für Mannheim eine individuelle Einrichtung mit Teilen aus unterschiedlichen Versionen der Oper entworfen – und es wurde einiges gekürzt, so dass der Abend mit Pause gerade einmal zweieinhalb Stunden dauert.
Stilkenntnis und -empfinden bestimmt die musikalische Einstudierung von Rubén Dubrovsky am Pult des Nationaltheaterorchesters. Der Dirigent, in historisch informierter Aufführungspraxis bestens bewährt, sorgt für einen klaren und trockenen Klang ohne Vibrato. Auch der Einsatz der teilweise solistischen Bläserstimmen ist gelungen. Dubrovsky setzt lebendige Akzente, betont aber auch sehr schön die lyrischen Momente der Partitur. Er gibt den Melodien breiten Raum zur Entfaltung, was der Einstudierung viel zarte Empfindung vermittelt.
Der Tenor Filipo Adami als Gast hat als einziger seine Partie bereits gesungen. Als Argirio zeigt er eine sichere Höhe und bemerkenswerte Beweglichkeit in den Zierfiguren. Er bekommt deshalb auch eine besonders anspruchsvolle Arie aus der Mailänder Fassung, die zu den Glanzpunkten des Abends wird. Natürlich gehört zu denen auch der „Hit“ der Oper, „Di tanti palpiti“ in der Auftrittsarie des Tancredi. Maria Markina singt hier und im weiteren Verlauf des Abends mit wohlklingendem Mezzo und erlesener Gesangskultur. Leider fehlt ihr noch ein wenig die Bühnenpräsenz und stimmliche Überzeugungskraft, um zur prägenden Figur des Stücks zu werden. Größere Intensität bringt Tamara Banješevi? als Amenaide ein. Die Sopranistin überzeugt durch geschmeidige Gesangslinien, lockere Tongebung und leidenschaftliches Espressivo. Sung Ha gibt mit klangvollem und exquisit geführtem Bass einen eindrucksvollen Orbazzano. Ji Yoon glänzt mit leuchtendem Sopran in der kurzen Soloszene des Roggiero. Katharina von Bülow ergänzt versiert das Ensemble als Isaura. Vorzüglich und optimal im Rossini-Ton singt der Coro Isabella Colbran.
Der konventionellste Teil der Aufführung ist die Inszenierung von Cordula Däuper im Einheitsbühnenbild von Ralph Zeger und den Kostümen von Sophien du Vinage. Gespielt wird auf einer fast leeren Bühne, auf der in der Mitte ein Spielpodest aufgebaut ist, das zum Ort der Entäußerung der Affekte der Protagonisten wird. Eine Brücke führt zu einer Tür im Eisernen Vorhang – und die führt zur Außenwelt. Im Finale des ersten Aktes wird in der allgemeinen Erregung dieser Weg abgebrochen. Im zweiten Teil sind alle dann gefangen in ihrer tragischen Leidenschaft. Der mittelalterliche Stoff ist hier angesiedelt zwischen Gegenwart und Zeitlosigkeit. Zwei mitspielende Kinder als ganz junge Amenaide und Tancredi zeigen, wie lange deren Liebe schon Bestand hat. Und sie schaffen Szenen, in denen sich bei den jeweils singenden Figuren Innen- und Außenwelt aufzuspalten beginnen. Meistens sind alle Personen immer zeitgleich auf der Bühne, der Chor sowieso. Realismus ist also nicht gefragt, eher ein Laboratorium der Gefühle.
Gewiss ist Cordula Däupers Regie in dieser Absicht psychologisch schlüssig und geht ernsthaft mit den Figuren um. Entsprechend ist die Inszenierung in der Personenregie nicht ohne eindringliche Momente. Doch in der Wahl ihrer Mittel ist die Regisseurin nicht unbedingt originell. In Optik und Gestik ist diese Produktion (zu sehr) im Bann heute üblicher Inszenierungsmuster. Man sah dergleichen in unzähligen anderen Opernproduktionen schon. Es fehlt leider ein eigenwilliger Zugang zur Geschichte und – noch wichtiger – zur Ästhetik dieser frühen Rossini-Oper.