Foto: Gob Squads "My Square Lady". Myon, Manfred Hild (Forschungslabor Neurorobotik an der Beuth Hochschule für Technik Berlin), Kinderchor der Komischen Oper Berlin © Iko Freese/drama-berlin.de
Text:Wolfgang Behrens, am 22. Juni 2015
Wenn Myon, der Roboter, auf dem Schoß der Sopranistin Mirka Wagner sitzt, dann wüsste man schon gern, was in seinem Kopf vorgeht. Ein fahler Mond senkt sich im Bühnenhintergrund herab, Mirka Wagner besingt ihn mit der berühmten Mondarie aus Dvoráks „Rusalka“, und Myon schaut sie derweil an. Oder er schaut weg. In jedem Fall sieht es sehr intim aus, wie die beiden da sitzen, und irgendwie meint man, der Roboter habe zu der Sängerin eine Art kindliches Vertrauen gefasst.
Seit 1950 gibt es in der Künstlichen-Intelligenz-Forschung das Gedankenexperiment des sognannten Turing-Tests. Es besagt, dass eine Maschine dann die Schwelle zur menschlichen Intelligenz überschritten habe, wenn ein menschlicher Beobachter in einer Laborsituation nicht mehr in der Lage sei, durch gezielte Fragen zwischen einem Menschen und der Maschine sicher zu unterscheiden. Man kann dieses Experiment natürlich auch von der rein sprachlichen Intelligenz auf andere Verhaltensebenen übertragen. Im Science-Fiction-Kino ist der Turing-Test ein durchaus gängiger Topos, erst kürzlich spielte er in Alex Garlands Film „Ex Machina“ eine inhaltlich tragende Rolle.
Myon jedenfalls, dieses niedliche, 1,25 m große Kunststoffwesen mit dem Zyklopenauge, würde den Turing-Test nicht bestehen. Nicht einmal im Ansatz. Einen Zuschauer, der bei der Premiere von „My Square Lady“ in der Komischen Oper Berlin in meiner Reihe saß, enttäuschte das derart, dass er in der Pause, laut über die lächerlichen Fähigkeiten des Roboters schimpfend, zur Garderobe strebte, um seine Jacke abzuholen. Myon indes ist keine Maschine, die einfach programmiert wurde, a oder b möglichst effizient zu tun. Myon arbeitet vielmehr mit neuronalen Netzen, die das Erlernen von Verhalten wie bei einem Kind ermöglichen sollen. Zu Anfang also, als das Forschungslabor Neurorobotik der Beuth Hochschule für Technik Myon entwickelte, konnte er: nichts. Nicht einmal alleine stehen. Dass er mittlerweile gelernt hat, seine Aufmerksamkeit auf Grund eigener Entscheidung auf mehr oder minder interessante Reize zu richten, zum Beispiel auf eine singende Frau (was noch besser funktionierte, wenn sie auch noch rot gekleidet wäre), ist nachgerade ein technisches Wunder.
Das Performancekollektiv Gob Squad hatte nun die schräge Idee, Myon in die Oper zu bringen. Zum einen sollte Myon in der Oper lernen, was Emotion ist – wo schließlich könnte man das besser? Zum anderen aber sollte Myon den gänzlich Musiktheater-unerfahrenen Performern von Gob Squad in der zweijährigen Vorbereitungsphase des Projekts helfen, die Institution Oper aufzuschließen.
Dass Myon viel vom Wesen der Emotion erfasst hat, ist zu bezweifeln. Er ist noch zu sehr damit beschäftigt, einfach nur in die Welt zu schauen – wobei er das auf wirklich rührende, sehr organisch anmutende Weise tut, unerklärliche Übersprungshandlungen inbegriffen. Gob Squad aber nutzen Myon als Projektionsfläche: Indem sie die Sänger, aber auch Mitarbeiter aus allen Gewerken des Hauses dazu auffordern, Myon etwas über die Emotionen in der Oper zu erzählen, können sie auf kindlich-charmante Weise hinter die Kulissen dieses „Kraftwerks der Gefühle“ blicken. Und Myon guckt sich das alles leicht irritiert an: Um hinter die Komplexität des Apparates Oper zu kommen, muss er noch unendlich viel lernen.
Wann wird er etwa einen Moment würdigen können, in dem das Ensemble-Urgestein Christiane Oertel (seit 30 Jahren an der Komischen Oper) nun doch auf der Bühne eine Arie der Carmen singt – eine Rolle, die sie so gerne gesungen hätte, wofür es nun aber zu spät ist? Wann wird Myon begreifen, was Liebe, Leid und Tod ist? Einmal wird er zu Klängen aus Brahms‘ „Deutschem Requiem“ („Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“) rituell auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Es macht ihm nichts. Myons „Vater“, nicht Professor Higgins, sondern der durchaus mit Rampensau-Qualitäten ausgestattete Professor Manfred Hild, schmettert im Goldglitter-Jäckchen Robbie Williams‘ „Feel“. Myon ist’s ziemlich egal, was sein engster Verwandter da treibt. Schließlich singt Katarina Morfa die Sterbearie aus Purcells „Dido“, alle Beteiligten brechen theatralisch zusammen und raunen Myon gerade noch zu, wie er sie in Erinnerung behalten soll. Myon steht ungerührt – er wird nicht sterben!
Unangestrengt, auf keine Weise zeigefingernd bauen Gob Squad so kleine Geschichten und Momente um Myon herum, die sowohl die Oper als Institution mit ihren Menschen und Abläufen als auch die Oper als Pathosfabrik zeigen. Was kümmert es da, dass der Roboter so wenig kann? Geht es denn überhaupt um ihn? Zwischendurch immerhin bringt ihm der Dirigent und musikalische Arrangeur des Abends Arno Waschk eine Armbewegung bei, die zumindest von ferne ans Taktschlagen erinnert. Und dass er schon ein paar Schritte gestützt laufen kann, darf er auch vorführen. Nur beim langen, überaus herzlichen Schlussapplaus erscheint Myon nicht mehr. Verbeugen? Nein, das kann er noch nicht. „Nicht mal das“, hätte mein Reihennachbar wohl gesagt.