Foto: Szene aus „Im Berg" © Frank Hammerschmidt
Text:Roberto Becker, am 11. September 2022
Der Begriff Musiktheater ist vielleicht zu hoch gegriffen. Nimmt man den am selben Wochenende im Staatsschauspiel Dresden auf die Bühne gewuchteten „Macbeth“ zum Vergleich, dann ist das, was das Multitalent Christian Friedel an selbstkomponierter musikalischer Dimension beigesteuert hat, näher an einem Musiktheater als das, was nun die bühnenversierten Komponisten Sebastian Vogel und Thomas Kürstner für Armin Petras geschaffen haben. Der Co-Direktor des Schauspiels Cottbus und schon immer zwischen seiner Identität als Autor und Regisseur Changierende hat aus Franz Fühmanns Großprojekt „Im Berg“ ein Libretto destilliert. Neunzehn Szenen samt Vorspiel für reichlich zwei Nettospielstunden. Mit einerseits kargen Titeln wie „erste einfahrt“, „kantine“, „die flucht“ und „kunst“, andererseits anspielungsreichen wie „brockenhexe a.D.“, „droge/faust/die schüler“, „hexen/tanzplatz/säbeltanz“, „AUDIOWALK südharz/das labyrinth oder/die ruinen meiner sehnsucht“. Wobei die bühnenerfahrene Perfektion und der Schulterschluss zwischen den Komponisten sowie dem Autor und Regisseur nicht zu überhören oder zu übersehen sind.
Der drängende, durchrhythmisierte Sound sitzt auch dann wie angegossen, wenn die gesungene Rede ausufert. Den Dichter Franz (als biographisches Alter Ego Fühmanns bei Robert Kuchenbuch dem Vorbild sogar ähnlich) bleibt die singende Rede erspart – dieser Schuster bleibt bei seinem Wortleisten. Er ufert allerdings, wenn er übers Schöpferische hinterm Stehpult referiert, auf eigene Rechnung aus. Nicht nur vorbei an den Erwartungen der Funktionäre, die es eh besser zu wissen glaubten. Sondern wohl auch über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg, die nie alle so ganz freiwillig den Bitterfelder Weg mitgingen. Diese Szene gehört zum Déjà-vu-Interieur, mit dem die im Osten Deutschlands Geborenen ihre ganz eigenen Erinnerung verbinden. Dafür steht auch das mehrfach zitierte Steigerlied „Glück auf, Glück auf“. Das hatte es auch ins Repertoire der Spielmannszüge für den Fahnenappell geschafft.
Nach Legenden graben
Fühmann hatte in den 70er-Jahren mit den utopischen Entwürfen des Idealbildes einer gesellschaftsbildenden, staatstragenden Literatur seit der Beendigung des Prager Frühlings und dann vor allem nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann nichts mehr am Hut. An seinem Ehrgeiz, das Untergründige zu erkunden, hielt er aber fest. Seit damals bis zu seinem Tod 1984 verfolgte er sein Recherche-Projekt „Im Berg“. Mit diesem Opus magnum wollte er sein Werk abrunden. Unter anderem seine Georg-Trakl-Entdeckung kam ihm (zum Glück für das Publikum in der DDR) dazwischen. Immerhin blieb nach seinem Tod genügend zutage geförderter Stoff auf Halde, dass es für den „Bericht eines Scheiterns“ reichte. Nun ist natürlich der Großteil der Bühnenliteratur eine Botschaft aus der Vergangenheit, Berichte über das So-geworden-sein. Wenn es sich aber um das Erbe der ostdeutschen Literatur handelt, dann ist das Label „Bericht eines Scheiterns“ fast schon ein kategorischer Imperativ – Scheitern, was sonst!
Dem immerhin stemmen sich Petras, die Komponisten und die Protagonisten entgegen – wie Bergleute, die eine in Fahrt kommende Lore bremsen wollen. Die metaphorische Ader mit dem Rohstoff, aus dem sich Energie für die Zukunft gewinnen ließe, finden sie nicht. Aber indem sie selbst von einer jungen Legende erzählen, stoßen sie auf das Weiterleben von alten Legenden. Sie sehen hinter den grau banalen Fassaden der Rituale der DDR auch Vergangenes: hinter der Frauentagsparty (hätte man sie nicht besser Feier genannt?) eine Walpurgisnacht, hinter einem Überschuss an weiblichem Selbstbewusstsein eine bacchantische Entgleisung. Dann aber blinken immer wieder die Abzeichen am Revers und die Zunkunftsgewissheit in den Minen der Funktionäre. Die sind aber nicht nur mit der Veränderung der Wirklichkeit, sondern mit der Beschönigung von deren Aussehen beschäftigt. Den Künstler im Berg lassen sie vorsichtshalber von der smarten Journalistin Gabi (Charlotte Müller) bespitzeln. Das Porträt eines Verunglückten verschwindet plötzlich. Zu guter Letzt rammen sie ihrem Helden Siegfried den Speer in den Rücken. Sprich: sie verpassen dem Brigadier gleichen Namens mit dem Franz unterwegs ist, Handschellen, weil der bei seinem Drang wegzugehen, die falsche Himmelsrichtung eingeschlagen hatte.
Nils Stäfe singt und spielt diesen Siegfried großartig. Im Graben kommt Johannes Zurl mit zehn Instrumentalisten des Philharmonischen Orchesters aus. Zum klassischen Streichquintett (zwei Geigen, Bratsche, Cello und Kontrabass) kommen Klarinette, Trompete und drei Spieler mit üppigem Schlagwerk hinzu. Das Resultat klingt keineswegs nach Mangelwirtschaft, sondern füllt das Haus mit hinreichendem Wums. Die große Schräge, die die Bühne von Peta Schickart dominiert und die Spielfläche in der Höhe und an der Rampe teilt, bringt das Thema auf den Punkt. Die Kostüme von Annette Riedel und die Videos von Rebecca Riedel tun ein Übriges für die Imagination eines verschwundenen Landes. Von dem allerdings nicht nur die Legenden, sondern auch noch viele Menschen keineswegs verschwunden sind.