Foto: "Dance Nation" am Schauspiel Hannover © Katrin Ribbe
Text:Michael Laages, am 17. Oktober 2020
Sehr entfernt erinnert das Stück der 1986 im amerikanischen Bundesstaat Washington geborenen Autorin Clare Barron an eine andere Tanz-Schlacht – an den „Marathon-Tanz“ oder (nach dem eingedeutschten Filmtitel) „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“. Da tanzen die in der Wirtschaftskrise sozial Abgehängten und beruflich Chancenlosen paarweise und selbstzerstörerisch ums eigene Überleben; und da sie an einen zynisch-betrügerischen Veranstalter geraten, endet dieser letzte Kampf in der Katastrophe. Clare Barrons sehr junge Teenies heute können dagegen immerhin noch hoffen auf den Sieg der gemeinsamen Choreographie. Und da die Übersetzerin Lydia Nagel und/oder Stephan Kimmigs Team der deutschsprachigen Erstaufführung in Hannover den Text radikal eingedeutscht haben, werden Barrons Mädchen (und der Junge im Verein, eine Art Vortänzer für das Team) erst beim deutschen Nachwuchswettbewerb in Mannheim kämpfen, dann (für den deutschsprachigen Raum) in Zürich, später europäisch in Rotterdam und am Ende, wer weiß, gegen Konkurrenz weltweit in London.
Wohlhabende Eltern finanzieren die Tanzschule samt Lehrer Pat und Musiker Bill; gelegentlich rauscht mal eine Mutter herein und weiß alles besser – im Training wie im Kinderzimmer zuhause. Und die Kids, mehrheitlich zwischen 11 und 13 Jahre jung, durchleiden all das, was in frühpubertärer Zeit so zu durchleiden ist: erste Freundschaft und erster Hass, erste Verliebtheit und erste Regelblutung, die Entdeckung des eigenen Körpers und der überwältigend schöne große Traum von der Zukunft. Alles da; und auch sehr viel jugendliche Psychologie ist im Spiel – eine der jungen Tänzerinnen, nach Lehrermeinung die beste, hat große Probleme mit der eigenen Siegerrolle; sie würde gern und lieber verlieren. Aus dem vielfältigen Durcheinander aus Neben-, Mit- und Gegeneinander innerhalb der kleinen Gruppe wächst nun aber wirklich die gemeinsame Energie, die vielleicht tatsächlich den monströs großen Pokal erringen lässt, den Bühnenbildnerin Katja Haß kurz vor dem Finale bühnenhoch auf die Drehbühne herabsinken lässt.
Dank einer dramaturgischen Überbau-Idee der Autorin nimmt die Unübersichtlichkeit noch zu – sie wünscht sich, dass die Mädchen von „erwachsenen“ Schauspielerinnen und Schauspielern dargestellt werden, und die dürfen auch sehr fortgeschrittenen Alters sein und benötigen keine besonderen Tanzfertigkeiten. Gute Idee: So wird potenziell kitschiges Einfühlen in Kinderseelen verhindert. Und in der Tat taugt Barrons Text auch nur bedingt zum Kinder- und Jugendtheater; das Personal spricht und denkt deutlich entwickelter, biographisch fortgeschrittener, reflektierter. Selbst dann, wenn es präfinal um die Hymne auf die erst nach der ersten Regel so richtig entdeckte eigene „Pussy“ geht – die ist natürlich die schönste und tollste der Welt. Wenn doch nur auch die eigene Seele so schön wäre! Das Mädchen dreht schier durch vor Eigenliebe, und selbst die Herren im Ensemble sprechen die Beschwörung emphatisch mit.
All diese starken Überraschungen können aber nur bedingt verbergen, dass Clare Barrons Text an sich keine herausragende Entdeckung ist. Die Autorin setzt deutlich auf das Fragment, die Miniatur, den Solo-Moment; nicht auf den sinn- oder gar drama-stiftenden Zusammenhang. Zwar ist zentral eine ziemlich herausfordernde Idee eingebaut – das Ensemble soll immerhin die politische Lebensgeschichte von Mahatma Gandhi tanzen! Von der ist aber erstaunlicherweise fast überhaupt nichts zu sehen. Ein bisschen Spannung wächst dagegen aus den konkurrierenden Beziehungen zwischen der immerzu siegeswilligen Connie und der eher vor sich hin träumenden Zuzu; und später bringt dann Amina mit ihrem Starpotenzial und ihrer Lust am Verlieren den dritten starken Pol in die Konkurrenz. Mitreißend ist auch Ashlees große Arie vom welterobernden Selbstbewusstsein. Lehrer Pat gibt derweil den Guten und den Bösen zugleich, übergriffig und einfühlsam; und im Finale (als die Super-Amina schon im Schwanensee-Kostüm steckt, Ashlee Uniform trägt und auch jede und jeder sonst die Klamotten der Zukunft) geistert Tanzlehrer Pat sogar noch als ewige Liebe durch die Träume von Zuzu.
Zusammenhang und Sog des dramaturgischen Durcheinanders muss die Inszenierung stiften – und Stephan Kimmig forciert vernünftigerweise und, wo immer es geht, das Kollektiv; mit wirklich gewitzter Unterstützung durch den auch improvisierenden Pianisten und Gitarristen Nils Strunk. Zu seinen Sounds wirbeln und rennen und rasen die Mädchen, lassen allesamt die Körper sprechen, wo immer es geht – er, der jeweilige Körper, soll zum Hauptdarsteller werden. Und so gelingt das wichtigste Moment der Inszenierung: massive Kollektivität. Ich – das sind wir alle. Darüber und über dieses Ensemble jubelt das hannoversche Publikum vielleicht ein bisschen lauter als unbedingt nötig: mittelprächtiges Stück, überzeugendes Theater.