Allein tritt Schauspielerin Sandra Hüller von der mit einem Spiegel verkleideten Rückwand zwischen der Band (Neil Claes, Alban Sarens, Liesa Van der Aa, Anke Verslype) hervor, läuft auf der langen Bühne, die komplett mit Erde bedeckt ist, langsam auf das Publikum zu. Jeans, weiße Bluse, blonde Mähne: Van Hoves Hüller-Version der britischen Alternative-Sängerin PJ (Polly Jean) Harvey.
Ivo van Hove ist der neue Intendant der Ruhrtriennale. Seine Amtszeit beginnt unter Kritik durch Vorwürfe von Machtmissbrauch und Mobbing am Internationaal Theater Amsterdam. Die Vorwürfe richten sich nicht direkt gegen den Belgier. Zur Zeit der Vorfälle stand das Haus jedoch unter seiner Leitung. Diese Umstände bleiben bei der Ruhrtriennale in Bochum außen vor.
Bühnenreifes Musikvideo
Van Hoves Inszenierung wird durch eine einzige Setlist mit 26 Songs Harveys in vier Teilen, Lebensabschnitten, die den künstlerischen Weg der Sängerin zeichnen, erzählt: „Grow“, „Love and Personal and Political Disappointments“, „Big Exit“ und „Back Home“. Das Ganze wirkt wie ein einziges anderhalbstündiges live aufgeführtes Musikvideo. Sandra Hüller singt komplett durch! Das Kollektiv (LA)HORDE begleitet sie dabei: Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel. Sie waren unter anderem bei Madonnas „Celebraton“-Tour an der Choreografie beteiligt.
Tänzer:innen des Ballet National de Marseille umrahmen Sandra Hüllers Performance, sind der lebendige Ausdruck von Harveys düsteren Lyrics, dem oft treibenden Rocksound im rauen Setting der Bochumer Jahrhunderthalle. Sandra Hüller findet für Harveys Songs den passenden Ausdruck, nutzt ihre Stimme als Instrument für Schmerz, Kraft, innere Zerrissenheit und Hoffnung. Wie bei Harvey kratzt es, jauchzt oder bricht in Flüstern und Hauchen, stöhnt und schreit. Die poetischen Lyrics eröffnen weite Assoziationsräume: „I’ve seen and done things I want to forget, coming from an unearthly place.“ Wo können wir noch menschlich mit der Wirklichkeit verbunden sein, in einer Welt, die auseinanderfällt? Wo finden wir Ruhepole im zerreißenden Leben, so im Song „This Mess We’re In“, eine Kollaboration mit Thom Yorke (Radiohead).
Ganz großes Kino
Ein bühnenbreiter Leinwandstreifen ist nur ein Gadget für die eindrückliche Show, die van Hove und sein Team auffahren. Darauf werden live Aufnahmen von den Tänzer:innen und Sandra Hüller mit Handkamera und weiteren Standkameras übertragen. Dann wiederum sieht das Publikum darauf Zerstörungsbilder, eine in Flammen aufgehende Welt, verrottende Grabsteine, einen Tunnel, das nächtliche New York oder atmosphärische Meeresaufnahmen und die Kreidefelsen von Harveys Geburtsregion Dorset (Video Design: Christopher Ash).
Einen besonderen Videoauftritt hat die französische Schauspielerin Isabelle Huppert (Hauptrolle in Romeo Castelluccis Inszenierung von „Bérénice“, Premiere bei der Ruhrtriennale am 25. August) in „Talk to You“ als Erscheinung der Großmutter, zu der PJ Harvey aka Sandra Hüller singt. Sie ist dabei im versöhnlicheren Teil des Abends angekommen, nach Hoffnung, Zerstörung, Sehnsucht und Schmerz.
Ein groß aufgefahrenes Lichtdesign von Jan Versweyveld tut sein Übriges zur Show, überflutet die manchmal neblige Bühne und richtet sich am Ende natürlich auch direkt auf das Publikum. Stecken auch wir in diesem Leben fest? Und was fühlen wir dabei?
In einer außergewöhnlichen Performance durchgehen die Tänzer:innen extatisch PJ Harveys Seelenabgründe, werden vom Leben zurückgeworfen, gewürgt, umgebracht. Sie marschieren wie Soldat:innen, winden sich in Sex, durchleben die Schönheit und Gewalt von Liebe. Das alles auf dem Boden, der „Mutter Erde“, der Natur und dem Ursprünglichen, zu dem Harvey immer wieder zurückkehrt. Am Ende steht das „Desperate Kingdom of Love“, die Sehnsucht nach einem „different land“ wie in „Big Exit“. Harveys Vorstellung von Schönheit ist da irgendwo im Chaos verborgen. Was für eine Show!