Foto: "Besser wissen" in Nürnberg (mit Anna Keil, Felix Axel Preißler und Rahul Charkraborty). © Marion Bührle
Text:Dieter Stoll, am 17. Dezember 2012
Mit Karacho hinein ins (nicht nur britische) Bildungssystem. An der Bühnenrampe der Nürnberger Kammerspiele liegen sieben Häufchen mit sorgsam gefalteten Klamotten und den passenden Schuhen dazu. Hier wird gleich ein Drama maskiert. Die Schauspieler zum Outfit stürmen mit fiktiver Altersangabe (jeweils behauptete 15 Jahre die vier Schüler, von Ende 20 bis Mitte 50 die drei realistischer besetzten Lehrkörper) diese trendige Umkleidersammlung, werfen provozierende Blicke aus der Unterhose und steigen breitbeinig ein in Rollen wie Kostüme. Im Mittelpunkt eine verhuschte Referendarin, die als fallender Engel ins Räderwerk gerät. Ideale und Karriere gleichermaßen fest im Blick tritt sie gegen zynisch nette Kollegen, gewalttätige Schüler und die eigene Naivität an. Die Machtfrage zirkuliert auf allen Ebenen, wenn die pöbelnden Problem-Kids in der “Scheiß-Mongo-Klasse” jede Autorität wortgewaltig auflaufen lassen und im Lehrerzimmer die Pädagogik mit der Wodkaflasche schöngesoffen wird. “Das ist unangebracht”, sagt das Fräulein gerne, sobald es um Sex geht – aber darum geht es ja dauernd. Und weil der als “Schwuli” vorgestellte dunkelhäutige Außenseiter unter den Minderjährigen komplexbeladen, aber gewaltfrei eigene Gedichte verfasst (“Blankes Herz und hasserfüllte Blicke”), kann er der poesiefreudigen Jung-Lehrerin entschieden näher kommen. Sie würde es am liebsten gleich wieder vergessen, er will mehr und fragt, ob das, was sie getan haben, überhaupt als Sex gilt. Das wollen die Jungs und Mädels nämlich wissen: “Was bedeutet es, Sex zu haben?” Und, weil wir grade grundsätzlich sind: “Wer ist ein guter Mensch?” Bill Clinton könnte da sicher gebündelt Auskunft geben, der Stückeschreiber hingegen hält sich raus. Er will nur zeigen.
Der englische Autor John Donnelly hat an mehreren Schulen unterrichtet, weiß also, wovon er erzählt. Aber mehr als erzählen will er nun mal nicht. Das 2011 im Londoner Bush Theatre erfolgreich uraufgeführte Stück sagt mehr über die geölte Mechanik des britischen Dahinbehauptungs-Boulevards als über aktuelles Problembewusstsein. Donnelly bringt Schüler und Lehrer wie in einem Mehr-Generationen-Haus der verpassten Hoffnungen locker in Konfrontations-Stellung und beutet sie dann schamlos aus. Pointen blitzen im Dialog-Donnerwetter, ob die Jugendlichen sich gegenseitig niedermachen oder Front bilden gegen die Alten, ob gesoffen wird oder erzogen. Die Referendarin Zoe, um die sich alles dreht, erreicht in ihrer unbegründet wendungsreichen Entwicklung die Tiefenschärfe einer durchschnittlichen TV-Serien-Heldin und muss wenigstens im tränenden Gefühlsausbruch nicht einsam bleiben. Auch der schlimmste Rabauke Mickey, das ist natürlich der mit den flottesten Sprüchen zu jedem Anlass, schluchzt beim bösartigen Hinweis auf seinen versoffenen Vater kurzfristig. Hurra, die Schule flennt!
Regisseur Johannes von Matuschka hat offensichtlich bei der Vorbereitung der Deutschland-Premiere die Schwächen der munter plappernden Vorlage gesehen und vor allem davor Angst gehabt, bei der Positionierung dieser nicht sehr originellen Story in der Zwickmühle zwischen “KlassenFeind” und “Doktor Specht” zu verenden. Also greift er zu grellen Revue-Effekten und Symbol-Signalen. Der beherrschende Metallic-Container von Bühnenbildnerin Marie Holzer wirkt erst wie ein hermetisches Asylanten-Gefängnis, in dem die Schüler weggesperrt werden – und wird dann in Einzelteile zerlegt. Spielerisch verwandelt sich der Standard-Folterraum in Projektionsflächen für unscharfen Webcam-Realismus, entwickeln losgelöste Wände ihr Dekorations-Eigenleben. Gespenstisch fährt tobende Partystimmung wie Paukers Horror-Show dazwischen. Prügel-Szene mit vorgezeigtem Blutbeutelchen inbegriffen. Naja, es ist also Theater.
Die Schauspieler haben Spaß am verfremdeten Tumult, bieten im Komödianten-Schaulaufen glänzendes Entertainment ohne Perspektive. Rahul Chakraborty, Felix Axel Preißler, Josephine Köhler und die in Nürnberg auch schon als “Fair Lady” aufgetretene Henriette Schmidt drehen als diabolisches Schüler-Quartett ihre Runden gegen die Lehr-Herren Heimo Essl und Stefan Willi Wang im Sarkasmus-Marathon. Anna Keil steht wie eine Hitchcock-Blondine mittendrin, tapfer gegen dramaturgische Beliebigkeit um Glaubwürdigkeit kämpfend. Was sie während der Aufführung gewinnen kann, ist das Wohlwollen der Zuschauer: Alles schon mal so ähnlich gesehen, aber selten so unterhaltsam wie in dieser Klangkulisse aus Rap und Rock und Tralala. Es endet mit ein paar Takten “Imagine”. Warum auch nicht.