Foto: "Hunger" bei den Salzburger Festspielen. Lilith Stangenberg, Marc Hosemann © Salzburger Festspiele / Matthias Horn
Text:Anne Fritsch, am 5. August 2018
Ein gutes Ende ist wichtig. Es ist das letzte, was die Zuschauer sehen. Das, was hängenbleibt. Frank Castorf aber, der jetzt im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Pernerinsel in Hallein Knut Hamsuns Roman „Hunger“ inszeniert hat, findet kein Ende. Die im Programmheft angekündigten viereinhalb Stunden sind bereits seit eineinhalb Stunden vorbei, als der Abend tatsächlich aufhört: in einer Variation der Anfangsszene. Die letzte Stunde war eine gefühlt endlose Aneinanderreihung möglicher Enden, denen immer noch ein Postskriptum folgte.
Der norwegische Autor Hamsun erzählt in „Hunger“ von einem verhinderten Schriftsteller, der hungernd durch die Straßen Oslos streift auf der Suche nach einer Gelegenheit, zu Geld und damit zu Essen zu kommen. Den Menschen, denen er begegnet, erzählt er die wildesten Geschichten, fabuliert drauflos und ist doch immer darauf bedacht, einen letzten Rest an Würde und Anstand zu wahren. Immer wieder kurz vor dem Hungertod bietet sich in letzter Sekunde doch noch ein Ausweg, ein erneutes Überleben, bis er am Ende auf einem Schiff nach Amerika anheuert. Hamsuns nächster Roman, „Mysterien“, kann gewissermaßen als Fortsetzung gelesen werden: Er erzählt von Johan Nagel, einem Sonderling im gelben Anzug, der im Ausland zu Wohlstand gekommen ist und in der alten Heimat für Aufsehen sorgt, sich am Ende aber das Leben nimmt.
Castorf nun verwebt in seiner Textfassung beide Romane zu einem irrlichternden Sittenbild. Aleksandar Denic hat ihm ein hölzernes Chalet auf die Bühne gebaut, das in Norwegen stehen könnte, irgendwie aber auch hier im Salzburger Land. Die Rückseite beherbergt einen McDonalds, Inbegriff von Amerika. In der Dachkammer im Inneren, aber auch außen finden sich überall Hinweise auf die Verbindung Norwegens im Allgemeinen und Knut Hamsuns im Besonderen zum Nationalsozialismus, die den Nobelpreisträger in seinen späteren Jahren in Verruf brachte. 1943 besuchte er Hitler auf dem Obersalzberg, stritt mit ihm um die – nationalsozialistische – Eigenständigkeit Norwegens.
„Hunger“ nun inszeniert Castorf im Grunde als furioses Solo von Marc Hosemann, der nur hie und da von den anderen Schauspielern, die Castorf aus seinem ehemaligen Volksbühnenensemble mitgebracht hat, unterstützt wird. Die meiste Zeit aber streift Hosemann allein um die Bühne wie Hamsuns Erzähler durch die Straßen Oslos, deliriert, monologisiert und dialogisiert, springt von einer Rolle in die andere und zieht einen in den Bann dieser verlorenen Gestalt, die Großes will und doch immer tiefer sinkt. Die auf Holzspänen aus der Wand kaut, um den Hunger zu vertreiben und sich schließlich sogar in den eigenen Finger beißt. Castorf folgt hier dem Roman sehr genau, schafft eine intensive Studie eines Menschen am Abgrund.
Kontrastiert werden diese düsteren Szenen von einem Amerika, in dem die Menschen – wie Hamsuns Protagonist in den „Mysterien“ – quittengelbe Anzüge tragen und statt Beefsteak Burger aus Styroporverpackungen verspeisen, die Kathrin Angerer und Lilith Stangenberg routiniert aus den vorgefertigten Ingredienzien zusammenstellen. Sophie Rois verbringt Minuten damit, die Speisekarte von Big Mac bis Cheese Burger vorzulesen – und man hört ihr gerne dabei zu. Dieses Amerika, das auch ein wenig Salzburg ist (daran lässt Herr Castorf keinen Zweifel), ist übersättigt und denaturiert. Sie essen in der „Blauen Gans“ oder singen: „I‘m going to McDonalds every night and every day“. Was nicht heißt, dass nicht auch hier der eine oder die andere vor die Hunde geht (die an diesem Abend auch nicht ganz fit, sondern ausschließlich in ausgestopfter Form daherkommen).
Diese Parallelerzählung beider Romane geht gut auf, erzählt schließlich auch Hamsun in Episoden, die nicht unbedingt in logischer Abfolge auf einander folgen. Hie wie da gibt es abrupte und unmotivierte Stimmungswechsel, Aufs und Abs, Hochs und Tiefs. Es ist der ewige Kreislauf aus Hunger und Sättigung, aus Hoffnung und Verzweiflung. Wie die Drehbühne dreht sich das Leben der Menschen in immer gleichen Bahnen um die Fragen: Was ist der Mensch wert? Wieviel muss er ertragen? Und: Wohin treibt ihn das?
Nach der Pause aber entfernt sich Castorf von den Vorlagen, unternimmt Streifzüge in den norwegischen Nationalsozialismus, zu Hitler und dem Wirtschaftswunder, zu nordischen und morgenländischen Märchen, zu Tolstoi und anderen großen Männern. Schließlich will er die Schlussszenen beider Romane zusammenführen, verliert sich in zu vielen losen Enden und letztendlich in Beliebigkeit. Was zu lange währt, wird selten gut. Schade.