Foto: Das Ensemble "ascolta" - aber nicht bei der Beschäftigung mit Operetten © Hyou Vielz/Ruhrtriennale
Text:Andreas Falentin, am 5. September 2019
„Gefährliche Operette. Eine Wiederbelebung“ ist ein wunderbarer, unterhaltsamer Abend, ein inszeniertes Konzert mit Revueelementen, das immer wieder zum Theater hinüberschielt und, sozusagen in den Zwischenräumen, auch phasenweise Theater wird. Ein Problem stellt lediglich der im Titel angelegte Etikettenschwindel dar. Denn mit Operette hat diese „Wiederbelebung“ im Maschinenhaus der Essener Zeche Carl doch recht wenig zu tun. Deutliche Inspirationsspender sind die wilden 20er-Jahre mit ihren unendlichen Varianten von Revue- und Cabaret-Songs, vielleicht auch der vom Zürcher Cabaret Voltaire ausgehende Dadaismus. „Lustige Witwe“, „Fledermaus“ oder „Belle Hélène“ gibt es in diesem Kosmos nicht – und hat es auch nie gegeben. Allenfalls die Jazz-Operette eines Paul Abraham darf zu den entfernten Vorfahren gezählt werden.
Nimmt man diese Akzentverschiebung hin – einige Zuschauer wollten das nicht und ergriffen die Flucht – oder freut man sich gar dran, wird es, wie gesagt, unterhaltsam, momentweise auch beglückend. Im Auftrag der Ruhrtriennale und des Ensembles ascolta hat der Komponist Gordon Kampe 16 Nummern geschrieben, auf Texte von Kurt Tucholsky bis Wiglaf Droste und Schorsch Kamerun, von einem kleinen, flachen (aber lustigen) Witz bis zu Gedichten des großen Guillaume Apollinaire. Wie immer bei Kampe ist es eine Musik, die alt und neu gleichermaßen klingt, in keine Schublade oder Schule passt, also ganz eigene verspielte Wege geht und dabei gerne vom Wilden ins Phlegmatische, vom Komischen ins Melancholische kippt und umgekehrt. Dabei vergisst der Komponist nie, dass da Menschen sind, die zuhören wollen. Er hält also stets Wege offen in sein musikalisches Universum.
Was natürlich leicht ist, wenn man einen Sänger zur Verfügung hat wie Daniel Gloger. Der kann nicht nur musikalisch alles, stellt sich nicht nur mit seiner ganzen Persönlichkeit in den Dienst dieser Kreationen, Vertonungen und Arrangements, er zieht sich dabei auch -zigmal um. Er ist Donald Trump in einer aus Originalzitaten gedrechselten Musiknummer, hier ein bisschen Bogart, mal trägt er Frack, mal ist er Vamp, mal Dame, mal Gloger persönlich. Und jedes Mal wechselt er, sehr präzise, die Haltung, noch öfter die Stimm- und Sprechfarbe. Dabei steigt er immer wieder von seinen angestammten Counterhöhen hinunter in die konventionelle Männerbrust. Er singt und spielt vom Vögel töten, vom Sinn des Lebens, von der Sehnsucht nach einem fliegenden Spiegel oder der Unmöglichkeit, ohne die eigene Fußbodenheizung zu verreisen. Und ascolta (Trompete, Posaune, Cello, Klavier, E-Gitarre, zwei Percussionisten) interagiert dazu, schafft Übergänge, spielt Soli, singt, röhrt, hat Spaß und blödelt in den Umzugpausen mit altmodischen Alkoholika halbprivat herum.
Hier hätte ein Regisseur, den der Programmzettel nicht ausweist, Räume schaffen und füllen können, das feine, durch die raumgreifende Musik wunderbar aufgemotzte dramaturgische Gespinst zur Explosion bringen können, dieses wunderbare Konglomerat aus Jazz, Noise, Elektro-Pop samt Inside-Piano und freiem Experiment. So bleibt alles dezent. Man freut sich am Charme der Akteure, sämtlich mehr oder weniger gesetzte Herren, denen am Pult eine etwas jüngere Dame gegenübersteht. Catherine Larsen-Marguire dirigiert nicht nur extrem klangsinnlich. Sie sorgt auch mit ihrem Marodieren durch die schmalen Reihen ihrer Musiker, mit ihren kleine Hustenanfällen, ihrer zarten Luftschlangendekoration für wirkliches Theaterleben.
Hätte es davon etwas mehr gegeben, wäre dieser Abend definitiv in die Musikgeschichte eingegangen. Denn wer hat in den letzten, sagen wir 20, Jahren ernsthaft humorvoll komponiert und das dann auch noch unverhüllt umgesetzt?