Foto: Liudmila Maytak und Alexandra Samouilidou rangeln miteinander, während Derrick Ballard ihnen keine Beachtung schenkt. © Andreas-Etter
Text:Bernd Zegowitz, am 26. Januar 2025
Regisseurin Luise Kautz inszeniert am Staatstheater Mainz die wenig aufgeführte Oper „L‘Aiglon“ und nimmt ihr Publikum mit auf eine Reise ins frühe 19. Jahrhundert. Ein Abend, der musikalisch überzeugt, das Potential des Werks aber nicht genug ausschöpft.
„Ich habe keine Ahnung, wie Komponisten arbeiten, zum Beispiel Jacques Ibert“, sagte Arthur Honegger, der gemeinsam mit eben diesem Ibert eine fünfaktige Oper geschrieben hat. Beide scheinen Freude daran gehabt zu haben, alle im Unklaren darüber zu lassen, wer welche Teile komponiert hat. Die Musikwissenschaft sagt, die zwei Rahmenakte seien von Ibert, die drei anderen von Honegger. Der Dirigent der Mainzer Aufführung Hermann Bäumer meint, das lasse sich so genau aus der Musik nicht herauslesen. Die Frage nach der Urheberschaft stellt sich indes eher selten, weil „L‘Aiglon“ seit der Uraufführung in Monte Carlo im Jahr 1937 nur eine Handvoll Inszenierungen erlebt hat.
Der kleine Sohn des großen Kaisers
Die Handlung des Drame musical spielt Anfang der 1830er Jahre in Schloss Schönbrunn. Dorthin hatte man 1814 den kurzzeitig vom Vater Napoleon Bonaparte als Thronfolger eingesetzten Napoleon II., den titelgebenden jungen Adler, nämlich gebracht, um ihn vom politischen Geschehen fernzuhalten. Als sich 1830 in Frankreich erneut revolutionäre Bestrebungen regen, soll der junge Mann, mittlerweile Herzog von Reichstadt, von bonapartistischen Gruppierungen wieder an die Spitze des französischen Staates gestellt werden. Der österreichische Staatskanzler Metternich weiß das zu verhindern und der moribunde Herzog zerbricht trotz Unterstützung eines alten Haudegens seines Vaters nicht nur an dieser Aufgabe, sondern am Zwiespalt seines Lebens.
Reales und Surreales
Die Regisseurin Luise Kautz lässt die ersten beiden Akte in einem erfundenen Interieur von Schloss Schönbrunn spielen, lässt viel Freiraum für die Präsentation der Personen, die sich um den jungen Herzog herum in Position bringen. Die Kostüme von Tanja Liebermann sind historisch stilsicher, die Bühne von Valentin Mattka ist reduziert klassizistisch. Doch dieser schöne Rahmen müsste mit Leben gefüllt werden und nicht nur mit Figuren, die auf- und abtreten und das komplexe politisch-gesellschaftliche Gefüge verkörpern.
Je stärker sich aber die Erzählperspektive in den folgenden Akten auf diejenige des Herzogs beschränkt, statt der Außen- die Innensicht dominiert, desto stärker wird auch die Inszenierung. Wie in einem Theater zieht im dritten Akt auf einer Bühne das Leben des jungen Mannes, von Figuren der Commedia dell’arte präsentiert, an ihm vorüber, weckt seine Zweifel, desorientiert ihn. Im vierten Akt kämpft er auf dem imaginären Schlachtfeld von Wagram, sieht die Toten erwachen, die in Videoeinspielungen (Judith Selenko) aus der Erde auferstehen, an seiner Seite kämpfen. Dass er sich nur im habsburgischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv, im schlecht sortierten Gerümpelkeller der Geschichte befindet, ist ihm nicht bewusst. Im letzten Akt dann sind die Flügel des Adlers gebrochen. Im Angesicht seiner imperialen Wiege hustet sich die Hoffnung der Bonapartisten auf einem Feldbett zu Tode, umgeben von Freund und Feind.
Grand Opéra im Gewand des Drame musical
Es ist ja nachvollziehbar, dass ein gänzlich unbekanntes Stück dem Publikum erst einmal nähergebracht werden soll, doch hat Luise Kautz dabei Potential liegen lassen. „L’Aiglon“ erinnert in seiner Fünfaktigkeit, seinem historischen Sujet, dem tragischen Ausgang, der Balletteinlage sowie der Figur des entscheidungsunfähigen Protagonisten an die Grand Opéra. Der letzte Akt imitiert dann wiederum bis in kleinste Details hinein Puccinis „La Bohème“. Hier hätte die Regie ansetzen können, das Uneigentliche des Stückes, das Zitathafte, die Parodie, das Komische – und davon gibt es genügend – zu betonen, es richtig krachen zu lassen und gerade dadurch die ernsthaften Momente zu verstärken.
Neoklassizistisches neben Veristischem
Hermann Bäumer und das Philharmonische Orchester Mainz haben hörbar Freude am Stilmix der Partitur, an den Offenbach’schen Walzern, den veristischen Anklängen der Rahmenakte, den neoklassizistischen Partien mit Anklängen ans 18. Jahrhundert, den scharfen trockenen Blechattacken Honeggers, den impressionistisch getupften Passagen. Die Hosenrolle des Herzogs von Reichstadt verlangt eher einen Mezzosopran mit guten Höhen. Alexandra Samouilidou ist ein Koloratursopran, der mit dieser Partie deutlich überfordert ist. Derrick Ballard singt den alten Haudegen Flambeau mit einer gehörigen Portion Rustikalität, Gabriel Rollinson den Metternich etwas verhalten.
Musikalisch ist das Stück eine veritable Wiederentdeckung, zum Nachspielen unbedingt zu empfehlen. Die Regie hätte zusätzlich auf die Pauke hauen sollen. Zu viel Ernst schadet dieser Oper, zu viel Sachlichkeit auch.